Im 20. Jahrh., vor allem nach den beiden Weltkriegen und mit den dann einsetzenden technisch-ökonomischen Wachstumsmaximierung, haben Ethiker:innen versucht, auf die damit einhergehenden Herausforderungen für das menschliche Leben und Handeln neue Antworten und Hilfsstellungen zu geben. Diesen neuen Ethiken lassen sich gut einbinden in die Einteilung der verschiedenen traditionellen Ethiken. Denn eher ziel- und verantwortungsorientiert sind die Verantwortungsethik von Hans Jonas und der Präferenzenutilitarismus von Peter Singer, hingegen sind die Diskursethik von Hans Apel und Jürgen Habermas und die Gerechtigkeitsethik (‚Gerechtigkeit als Fairness‘) von John Rawls eher rechts- und pflichtenorientiert.

Angesichts der Konsequenzen weltweiten technischen Fortschritts und ökonomischer Wachstumsorientierung legte der jüdische Philosoph Hans Jonas (1903-1993) bereits im Jahr 1979 unter dem Titel „Prinzip Verantwortung“ eine ‚Ethik für die technologische Zivilisation‘ vor.
Die Verantwortungsethik geht davon aus, dass die Folgen gegenwärtigen weltweiten Handelns unüberschaubar sind. Vor allem aufgrund technischer Innovationen und ökonomischer Interessen beeinträchtigen wir unsere natürliche Umwelt und die Überlebensfähigkeit der Menschheit in unüberblickbarer Art und Weise:

  • Fehlerhafte und ungewollte Entwicklungen können kaum mehr zurückgenommen oder lokal begrenzt werden (Beispiel: Reaktorkatastrophe Fukushima).
  • Nicht einzelne Menschen, sondern Kollektive handeln.
  • Gute Absicht garantiert keine guten Folgen.

Jonas ist überzeugt, dass eine „Ethik für die technologische Zivilisation“ keine Ethik der Nähe mehr sein kann. Vielmehr muss sie eine Ethik der Ferne sein: Sie darf nicht mehr nur die unmittelbaren Entscheidungsfolgen in den Blick nehmen, darf nicht mehr zeitlich und räumlich begrenzt sein. Und sie darf nicht mehr nur die sicher vorhersehbaren Folgen in den Blick nehmen. Vielmehr muss sie die bloß möglichen Folgen, das Restrisiko wahrscheinlicher Folgen beachten: Sie muss von der je schlechtesten Prognose ausgehen. Die Prinzipien, an denen sich die Verantwortungsethik orientiert, sind also:

  • ‚In dubio contra projectum‘ – ‚Im Zweifel gegen das Projekt bzw. Vorhaben‘
  • ‚In dubio pro malo‘ – ‚Im Zweifel für die schlechte Prognose‘

Moralisch gut ist ein (technisches) Handeln also dann, wenn es dem ‚neuen kategorischen Imperativ‘ der Verantwortungsethik gerecht wird: „‘Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‘; oder negativ ausgedrückt: ‚Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens‘“ (Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung (1979), S. 36).

Der australische Philosoph Peter Singer (* 1946) ist einer der am intensivsten diskutierten Ethiker:innen der Gegenwart. Bekannt geworden durch sein Buch „Praktische Ethik“, argumentiert er, dass der Maßstab moralischen Handelns ausschließlich die Interessen der von diesem Handeln betroffenen Menschen sein sollte. Damit stellt sich Singer in die utilitaristische Tradition teleologischer Ethik. Ihm gilt jenes Handeln als moralisch gut, das „per Saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat“ (P. Singer, Praktische Ethik, 40). Im Vorfeld einer Handlungsentscheidung müsse also eine Interessenabwägung durchgeführt werden, und zwar unter der Voraussetzung, dass alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Rasse und Religion – die gleichen Rechte und Pflichten haben. Singer weiß natürlich, dass es bei einer Handlung nie möglich sein wird, alle Interessen aller, also auch zukünftig lebender Betroffener zu ermitteln und in das Konsequenzen-Saldo einzurechnen. Das ändere aber nichts daran, eine solch umfassende Kalkulation als Ideal anstreben zu sollen.

Für teils heftige Diskussionen sorgte die Interessenabwägungs-Ethik Singers aufgrund einer anderen Problematik: Wer überhaupt ist als Mensch Träger von Interessen, so dass die Pflicht besteht, diese zu berücksichtigen? Wer ist Mensch i. S. einer Person? Wer also hat Interessen – und wer ist lediglich ein Lebewesen der biologischen Spezies ‚homo sapiens‘, ohne Fähigkeit der Interessenbekundung? Sobald mit Singers Präferenzenutilitarismus sympathisiert und die Interessenabwägung zum entscheidenden Schlüssel gemacht wird, in moralisch gebotener Weise zu handeln, wird diese Frage beantwortet werden müssen. Dass dies jedoch hochproblematisch ist, wird besonders deutlich in jenen Handlungsbereichen, die mit den ‚Grenzen des Lebens‘ verbunden sind, also z.B. beim ungeborenen oder sterbenden Lebens (In-vitro-Fertilisation, Abtreibung, Lebensrecht schwerstbehinderte Neugeborene, Sterbehilfe, …). Denn offenkundig kann weder bei einer befruchteten Eizelle noch bei einem dementen und/oder wachkomatösen Menschen von Interessenäußerungen geredet werden. Singer behauptet daher, beide seien lediglich Angehörige der biologischen Spezies ‚homo sapiens‘, beide seien also ‚nicht-menschliche Tiere‘, sie seien keine ‚Menschen‘, keine ‚Subjekte von Interessen‘, keine ‚Personen‘. Denn hierfür seien Rationalität, Selbstbewusstsein, Bewusstheit, Empfindungsfähigkeit und Leidensfähigkeit erforderlich – Eigenschaften, über die weder eine befruchtete Eizelle noch ein komatöser Patient verfügt. Und damit handele es sich bei selbigen um ein ‚weniger lebenswertes‘, mitunter auch um ein ‚nicht lebenswertes‘ Leben. Entsprechend sei die Abtreibung bei entsprechender Interessenabwägung (Mutter, gesellschaftliche Kosten, …) unter gegeben Umständen genauso moralisch indifferent bzw. sogar moralisch geboten wie die Tötung komatöser, mitunter auch schwerstbehinderter Menschen. „Was unterscheidet den Menschen – nicht nur rein biologisch – von allen anderen Lebewesen und macht sein Leben schützenswerter als das der Tiere? Eine mögliche Antwort ist diese: Es ist die Bewusstheit seiner selbst und die Bewusstheit seiner Zukunft, die sich erst nach der Geburt entwickeln. Entscheidend für das Recht auf Leben ist, so meine ich, diese Entwicklung des Selbstbewusstseins. Erst dann würde ich den Menschen als Person anerkennen. Diese Grenze zwischen Lebewesen und einer Person ist nicht präziser, aber sie ist ethisch bedeutsamer als alle anderen Grenzziehungen. Denn nur eine Person mit Selbst-Bewusstsein, die weiß, was es bedeutet, wenn ihr Leben beendet wird, kann sich auch wünschen, weiterzuleben. Das kann ein Lebewesen ohne Selbst-Bewusstsein nicht“ (Peter Singer, Eine nicht gehaltene Rede, S.20).

An Singers Argumentation wird vielfach kritisiert, dass sie in letzter Konsequenz die Tötung (schwerst-)behinderter Menschen fordere. Hierzu ein Blick auf Singer selbst: Dessen Mutter, eine einstige Ärztin, erkrankte an Alzheimer, außer Standes, ihren Sohn oder ihre Enkelkinder noch zu erkennen. Sie befand sich in einem Zustand, von dem Singer wusste, dass er in seiner Ethik als nicht wünschenswert bezeichnet wird. Dennoch sei er, so berichtete Singer später gegenüber einem Reporter, nie auf die Idee gekommen, seiner Mutter aktive Sterbehilfe zu leisten – obwohl dies in Maßgabe seines Präferenzenutilitarismus bzw. Konsequenzialismus ja geboten gewesen wäre. Sein Argument? „Vielleicht ist das schwieriger, als ich bisher gedacht habe […], es ist eben anders, wenn es um die eigene Mutter geht“ (P. Singer, in: Ulrich Schnabel, Die Würde der Affen, in:  http://www.zeit.de/1999/46/).

Für die Pflichtethik- bzw. deontologische Ethik (von griech. ‚deos‘, ‚Pflicht‘) ist ‚gut‘ keine Eigenschaft einer Handlung oder deren Folgen, sondern der Absichten und des Willens des/der Handelnden. An diese Tradition knüpfte und knüpft auch die Diskursethik an. Sie steht damit in der Tradition der Ethik Kants.

Die Diskursethik wurde grundgelegt und in die Allgemeine Ethik eingeführt von Karl Otto Apel (*1922) und Jürgen Habermas (*1929). Sie wird an den Universitäten Europas intensiv rezipiert, diskutiert und weiterentwickelt. Vor allem in politischen Entscheidungs- und Gesetzbildungsprozessen dient sie häufig als Orientierung. Sie hilft zu klären, wie und mit welchem Ziel unterschiedliche Handlungsoptionen miteinander ins Gespräch gebracht und aufeinander abgestimmt werden können. In Berufung auf sie wird auch immer wieder versucht, das Verhältnis von säkularer Gesellschaft einerseits und religiösen Glaubensgemeinschaften andererseits zu klären.

Die Diskursethik geht davon aus, dass weder charakterliche Tugenden noch die Ergebnisse von Handlungen noch gar der individuelle menschliche Wille gut sind. Vielmehr sei das Augenmerk auf die Art und Weise zu richten, wie sich Menschen auf Handlungsregeln einigen: ‚Gut‘ oder ‚böse‘ ist die Eigenschaft des Verfahrens, in dessen Verlauf sich Menschen untereinander auf die Regeln ihres Handelns verständigen. ‚Gut‘ i.S. der Diskursethik ist dabei ein Entscheidungsverfahren u.a. dann und nur dann, wenn…(vgl. Vgl. Habermas, Jürgen, Diskursethik, S.97-102).

  • es vorurteilsfrei ist;
  • die Verfahrens- bzw. Diskursteilnehmer sich wechselseitig anerkennen – niemand darf vom Diskurs ausgeschlossen werden;
  • der Austausch von Argumenten vernünftig erfolgt – Argumente müssen verständlich, vollständig, schlüssig, selbstwiderspruchsfrei, wahr und wahrhaftig sein;
  • alle TeilnehmerInnen das Ziel haben, sich tatsächlich zu verständigen;
  • jeder darf nur das behaupten, was er auch tatsächlich glaubt / für wahr hält.

In der Diskursethik meint ‚Diskurs‘ in Abgrenzung von (bloßer) ‚Diskussion‘ den ‚Prozess argumentativ-kommunikativer Urteilbildung‘. Habermas ist es wichtig, dass dieser Diskurs in Fokussierung auf individuelle und gesellschaftliche Selbst- und Mitbestimmungsprozesse stattfindet, und zwar im Interesse einer Umbildung gesellschaftlicher Ist-Zustände in gesellschaftliche Soll-Zustände.

Werden diese Diskursregeln eingehalten, so könnten die Handlungsregeln, auf die man sich verständigt, bis auf weiteres als gültig und gut akzeptiert und beherzigt werden. Davon sind Apel und Habermas überzeugt. Das entsprechende Handeln geht dann über individuelle Nutzeninteressen und Glückserwartungen hinaus, ähnlich wie es von einem Handeln gilt, da von Kants Kategorischem Imperativ geleitet ist: Das Handeln ist moralisch gut, wenn es sich an Normen hält, auf die man sich in einem Diskurs geeinigt hat, der entsprechend der angegebenen Regeln geführt wurde. Apel und Habermas wissen aber natürlich, dass ein realer Diskurs- bzw. Entscheidungsprozess diese idealen Diskursbedingungen niemals ganz erfüllen wird. Daher muss es möglich sein, die einmal aufgestellten Normen immer wieder zu korrigieren, zu ergänzen, ggf. auch zu streichen. Sie gelten lediglich „bis auf Weiteres“.

Ähnlich, wie Kants Ethik des kategorischen Imperativs, ist auch die Diskursethik…

  • deontologisch: Gut ist der sich selbst bestimmende und darin dem (inneren) ‚Gesetz der Freiheit‘ folgende Wille, der ‚autonome‘ Wille;
  • kognitivistisch: Der gute Wille ist nicht voluntativ, sondern durch die Vernunft geleitet;
  • formalistisch: Die moralische Regel – hier: die in einem Diskurs unter Achtung der Diskursregeln aufgestellte Handlungsregel – wird allgemein formuliert, ihre Anwendung auf den Einzelfall erfolgt durch das vernünftige und gutwillige Individuum: Es werden keine charakterlich-anthropologischen Tugenden, Werte oder Ziele vorausgesetzt;
  • universalistisch (ausnahmelos und notwendig): Jeder nach den Diskursregeln geführter Diskurs ist jederzeit, jeden Orts und notwendig moralisch gut und führt zu universell und kulturübergreifend gültigen Handlungsregeln;
  • prinzipiell: Es geht nicht darum, zu moralischem Handeln zu motivieren, sondern Prinzipien (Regeln, Gesetze) zu formulieren, deren Anwendung im Diskurs universell und kulturübergreifend gültigen Handlungsregeln führt.

Aber an entscheidender Stelle löst sich die Diskursethik von Kant. Denn die Normen werden nicht vorgeschrieben, sondern von allen erarbeitet und geprüft: Die Diskursethik ist intersubjektiv, da das (universelle) Handlungsgesetz gemeinsam und im Diskurs formuliert wird. „Statt allen anderen einen Maxime, von der ich will, dass sie ein allgemeines Gesetz sei, als gültig vorzuschreiben, muss ich meine Maxime zum Zweck der diskursiven Prüfung ihres Universalisierungsanspruchs allen anderen vorlegen. Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder (Einzelne) ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen“ (J. Habermas, Diskursethik, S. 77).

Die Diskursethik ist vielfach weiterentwickelt worden, auch in politischen Entscheidungsprozessen. Dabei ist immer wieder ein prinzipielles Manko der Diskursethik deutlich geworden: Sie regelt nicht, was zu tun ist, wenn jemand an einem Diskurs nicht teilnehmen will. Wie umgehen mit Fakenews und Rechtspopulismus, mit alternativen Fakten und Verschwörungsreden?

Die zentrale Forderung einer ‚Ethik der Fairness‘ ist es, Gruppen und Gesellschaften so zu organisieren, dass sich alle Mitglieder in ihren Entscheidungen fair (gerecht) zueinander verhalten wollen. Dieses sei aber, so Rawls (1921-2002), gar nicht so leicht. Denn alle Menschen seien zunächst einmal Egoisten. Jedoch seien sie rational kalkulierende Egoisten. Diese Annahme ist aus dem klassischen Kontraktualismus bekannt: Jeder Mensch ist auf seine eigene Vorteilsmaximierung aus, wägt dabei jedoch die Chancen und Risiken seiner Handlungen vernünftig ab. Daher könne man erreichen, dass die Mitglieder einer Familie nicht anders als die Bewohner einer Stadt oder eines Landes allen ihren Entscheidungen und Handlungen Regeln geben, deren Anwendung automatisch zu fairen Lebensverhältnissen aller führt. Und fair sei ein Zusammenleben dann, wenn jeder Mensch sein Leben bestmöglich verwirklichen kann, ohne dabei jemanden anderen einzuschränken.

Hierzu ein Beispiel: Wie teilt man einen Pudding gerecht auf?
Besonders (aber nicht nur) Kindern ist es wichtig, zu essen, was ihnen gut schmeckt. Und davon wollen sie möglichst viel essen. Zum Beispiel, so Rawls, von einem leckeren Pudding. Ein solcher Wunsch führt aber zu Problemen, wenn andere mitessen wollen: Die beiden Geschwister Gunnar und Kevin sitzen am Essenstisch, die Mutter hat einen Pudding gekocht. Beide wollen möglichst viel vom Pudding haben, ihnen ist daher klar: Jeder von uns soll von der Mutter genau die Hälfte bekommen. Beide jedoch misstrauen der Mutter. Schließlich kann man bei einem Pudding nie so genau sagen, ob die Puddingportionen auf zwei Tellern genau gleich sind. Und eine Waage ist auch nicht da…

Die von Rawls vorgeschlagene Gerechtigkeitsregel: Gunnar verteilt den Pudding auf zwei Teller, Kevin entscheidet, wer welchen Teller bekommt.
Das, was in einer Familie am Essenstisch funktioniert, müsse, davon war Rawls überzeugt, auch in anderen Lebensbereichen und auch in viel größeren Gemeinschaften funktionieren. Dass, um beim Pudding-Beispiel zu bleiben, Gunnar nicht weiß, welchen Teller Kevin ihm übrig lässt, nennt J. Rawls den ‚Schleier des Nichtwissens‘. Er motiviert Gunnar dazu, nach bestem Wissen und Gewissen fair aufzuteilen, sprich: rational zu kooperieren.

Dieser kreative Kerngedanke von Rawls, dass jeder eine (faire) Gerechtigkeitsvorstellung entwickelt, da er die eigene Position nicht kennt, und auf dieser Basis dann auch tatsächlich faire Handlungsregeln (Gesetze) entwickelt und befürwortet, wurde von ihm als eine Art ‚Urzustand‘ moralischer Entscheidungsfindung beschrieben: „Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. […] Die [von den Mitgliedern auszuhandelnden] Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt“ (J. Rawls, Ein Theorie der Gerechtigkeit, S. 29).