Kierkegaards Rede von Geist und Selbst ist zunächst und grundsätzlich der Höhe verpflichtet, die zu erklimmen der Geistphilosophie einst beschieden worden war durch Descartes: Der Geist, das Selbst, ist bei Kierkegaard nicht thematisch als Objekt des Reflexionsbewusstseins, so als wären Selbst und Geist simple Tatsachen wie Tisch oder Stuhl. Und ebenso abwegig wäre es, Kierkegaard eine ausschließlich anti-hegelianische Motivation zu unterstellen, so als wäre ein solcher Anti-Hegelianismus das, was dann im historischen Fortgang der Philosophie – zwar erst nach dem Ableben Kierkegaards, so doch in Berufung auf ihn – als Existenzphilosophie firmiert. Ein derartiges Zugehen auf die Texte Kierkegaards, ihn nämlich in allem und ihn ausschließlich zum Widerpart hegelscher oder überhaupt idealistischer Philosophie zu stilisieren, scheint allerdings durch die von ihm selbst fast schon plakativ betriebenen antihegelianischen Inszenierungen nahezuliegen, etwa, wenn er schreibt: „Wenn es unserer Zeit nicht vorbehalten wäre, das Existieren rein zu unterlassen, so wäre es undenkbar, dass eine solche Weisheit wie die Hegelsche als das Höchste hätte angesehen werden können, was sie wohl für ästhetisch Kontemplierende, aber weder für ethisch noch religiös Existierende sein kann“ (S. Kierkegaard, UN II, 293 [VII 255]).

1 Cartesianische Quellen

Kierkegaard hat sein öffentliches Wirken als Schriftsteller aber zu detailliert, zu komplex, kurz: er hat es zu dialektisch angelegt, als dass in  Plakativ-Anti-Hegelschem ausgemacht werden könnten die Gehalte seiner Handlungstheorie und seines Sprechens von der menschlichen Freiheit. Der von ihm übergroß gelegten anti-hegelschen Fährte darf nicht blind, ihr muss dialektisch gefolgt werden. Kierkegaards Schriften ruhen zunächst der gleichen Grundevidenz auf, der sich auch – teilweise vor ihm, teilweise zeitgleich mit ihm – die Transzendentalphilosophie Kants, das Denken Fichtes, Hegels und Schellings und überhaupt die idealistische Philosophie verdankt haben: Sie ruhen der Evidenz der cartesianischen Subjekt-/Selbstbewusstseinsphilosophie auf.

1.1 Descartes

Descartes hatte die primis fundamentis – das Fundament und den Grund allen Denkens und Handelns – gefunden und als philosophisches Prinzip markiert in der intuitiven Gewissheit des ‚Ego cogito, ergo sum‘ (‚Ich denke, also bin ich‘) bzw. des ‚Ego sum, ego existo’ (‚Ich bin, ich existiere’), in einer Gewissheit, die ‚sicher [ist] solange ich denke.‘ Es war dies die erste, die zweifelsfrei-gewisse Erkenntnis. Eine Erkenntnis, die auch von keinem höchsten und mächtigsten Betrüger (‚genius malignus‘) würde getäuscht werden können. Ein Erkennen, das unmittelbar, dass intuitiv einleuchtet. Es ist kein Wissen des gewöhnlichen, kein Wissen des Gegenstands- bzw. Reflexionsbewusstseins. Sondern es ist eine präreflexive Intuition, ein hinnehmendes Erkennen, ein ursprüngliches, nicht ableitbares Sehen. Derartiger Ursprungsidentität entspringt bei Descartes alles, was ihm Geist heißt. Und derartige Ursprungsidentität ist bei Descartes alles, was ihm Geist heißt. Entsprechend ist ihm alles, was dieser Identität nicht entspringt, (bloße) Materie, (bloßes) Körperliches. Soll daher Philosophie betrieben werden nicht unterhalb ihrer bei Descartes erreichten Höhe, so muss von der Ebene dieser präreflexiven Grund-Intuition ausgegangen werden. Dies freilich ungeachtet noch der Frage, ob wir die von Descartes angeführten inhaltlichen Bestimmungen dieser prä-reflexiven Evidenz als überzeugungsfähig beurteilen oder nicht.

Einer derartigen Intuition widerspräche es, würde das cartesianische cogito nur das Denken (‚cogitare‘) und nicht auch alle anderen Ich-Selbstgegebenheitsweisen umfassen, also etwa auch das Zweifeln und Einsehen, das Bejahen und Verneinen, das Wollen und Nichtwollen, das bildliche Vorstellen und das Empfinden (vgl. R. Descartes, Princ I 9; ders., Med. II 8f). Daher sprach Descartes von der ‚cogitatio‘ (Denken) als der ‚conscientia‘ (Mit-Wissen als Sich-selbst-Gegebenheit).

Mit dieser ‚conscientia‘ hatte Descartes die Philosophie des Selbstbewusstseins installiert: Der Mensch ist sich selbst gegeben im Denken, im Empfinden, im Wollen und er ist er selbst im Denken, im Empfinden, im Wollen. Dieses Selbst-/Mitbewusstseins-Fundamanet, dieses sich selbst gegebene Erkennen-Wollen-Empfinden, ist der mit Descartes gesetzte neue Geltungshorizont der neuzeitlichen Philosophie, besonders der idealistischen Philosophie (Kant, Hegel, Fichte, Schelling). Dieser Selbstbewusstseinsphilosophie ist die Selbstgegebenheit solchen Erkennen-Wollen-Empfindens der Quellgrund aller reflexiv-prädikativen Sätze, der Sätze sowohl der Theorie als auch der Praxis, der Sätze von theoretischer und praktischer Philosophie einschließlich der Handlungstheorie. Deren Sätze sind wahr dann, wenn besagte ‚conscientia‘ ihre Referenz- und Geltungsquelle ist bzw. wenn sie aus ihr abgeleitet werden können. Soweit die Anfangsgestalt, der Quellgrund neuzeitlicher Philosophie.

1.2     Vertiefung cartesianischer Quellen

Auch Kierkegaard bestimmt den Geist als das Selbst, nämlich als das Selbstverhältnis, als die Sich-Selbst-Gegebenheit des Menschen im Denken, im Zweifeln, im Einsehen, im Bejahen, im Verneinen, im Wollen, im Vorstellen, im Empfinden. Das Selbst jedoch ist nicht schon – auch hier verlässt Kierkegaard noch nicht die cartesianischen Pfade neuzeitlicher Philosophie – diese Selbst-/Bewusstseinsgegebenheit. Sondern das Selbst ist dieses, dass sich diese Selbstgegebenheit ihrerseits zu sich selbst verhält. Der Mensch als Mensch (als ‚Geist‘, als ‚Selbst’) ist Selbstgegebenheit und darin Synthese verschiedener Bestimmungen, aber er ist nicht nur diese Selbstgegebenheit, nicht nur diese Synthese, nicht nur ein Verhältnis zwischen Zweien. In der Sprache Kierkegaards: Er ist nicht nur Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit (bzw. besser: von Möglichkeit) und Notwendigkeit. Vielmehr verhält sich dieses Verhältnis seinerseits zu sich selbst. Und erst dieses zweite Verhältnis, erst diese zweite Synthese – erst dieses zu Unendlichkeit und Endlichkeit, zu Zeitlichem und Ewigem, zu Möglichkeit und Notwendigkeit hinzukommende ‚positive Dritte‘ – ist das Selbst, ist der Geist.

Dann aber macht Kierhaard er  noch einen weiteren, einen dritten Schritt. Mit ihm verlässt der ästhetische Schriftsteller und pseudonyme Verfasser mäeutischer Schriften auch noch dieses ‚Denken der Immanenz‘. Kierkegaard verlässt den cartesianischen Horizont, den Horizont auch von Rationalismus und Idealismus, den Fährtenverlauf seiner Vorgänger und Lehrväter. Aber er tut dies auf deren Niveau und nicht unterhalb desselben. Er hebt nicht an auf der Ebene bloßen Gegenstands-/Reflexionsbewusstseins, auf der Ebene des platonisch-aristotelischen Rationalismus. Kierkegaard gab jene Immanenzbindung auf, er ließ die Sphäre des Ästhetischen hinter sich. Ein Schritt, dessen Notwendigkeit und Evidenz der religiöse, mehr dann aber noch der christliche Schriftsteller Kierkegaard von Beginn an, also auch bei Abfassung jener ästhetischen Schriftstellerei, geahnt hat. Denn Kierkegaard nun: Jenes positive Verhältnis (das ‚positive Dritte‘) – das von Kierkegaard installierte zwei-synthetische bzw. drei-polige Verhältnis, das Selbstverhältnis also zum Verhältnis, der Geist, das Selbst – kann seinerseits entweder sich selbst gesetzt haben oder aber durch ein anderes gesetzt worden sein. Im letztgenannten Fall gelangen wir zu einem dritten Verhältnis: Dazu nämlich, dass sich das Selbstverhältnis seinerseits zugleich zu demjenigen verhält, der es gesetzt hat. Wir gelangen zum Sprechen von Gott, zum Sprechen vom Absoluten.

Hierbei droht die Gefahr, jenes zwei-synthetische, erst recht aber dieses drei-synthetische Selbstverhältnis – welches der Mensch als Mensch ist – insgesamt zu verfehlen. Es besteht die Gefahr, dass sich der Geist / das Selbst nicht in dieser Weise zu sich selbst verhält. Kierkegaard wusste von dieser Gefahr, ihr gelten besonders „Der Begriff Angst“ (1844) und „Die Krankheit zum Tode“ (1849): Der Wille kann das Falsche wollen, er kann im Wollen des Falschen nicht er selbst sein wollen, er kann sich fremd werden, sich selbst verfehlen.

Die Entscheidung kann fehlgehen, die Freiheit kann taumeln. Und zwar in dreifacher Hinsicht. Zunächst, und noch gleichsam trivial, kann der Mensch blind sein dafür, überhaupt ein Selbst zu sein. Kierkegaard nennt dies die uneigentliche Verzweiflung, sie zeigt lediglich einen Irrtum, ein Reflexionsdefizit an. Von dieser uneigentlichen Verzweiflung grenzt er die eigentliche Verzweiflung ab. Das Selbst kann sich nämlich dadurch verfehlen, dass es kein Selbst, dass es kein zwei-synthetisches Verhältnis (kein ‚positives Drittes‘), dass es kein Geist, dass er kein Selbstverhältnis zum Verhältnis sein will. Der Mensch kann sich dadurch verfehlen, dass er blind sein will für sich selbst, dass er ‚sich selbst loswerden‘ will. Ein Fehlgehen, eine Flucht vor sich selbst: Der Mensch, das Geist-Selbst, kann verzweifelt sein darin, nicht er selbst sein zu wollen. Aber er kann auch noch einer zweiten Form eigentlicher Verzweiflung erliegen. Diese tritt zu Tage und befällt das Geist-Selbst, sobald es (sich) tatsächlich, sobald es (sich) als ein abgeleitetes, als ein gesetztes Selbstverhältnis zum Selbstverhältnis gegenständlich wird. Denn darin verhält es sich (als gesetztes Selbst) zu einem Andern. Es kann gar nicht anders, als sich darin zu einem Anderen zu verhalten – dazu nämlich, (von einem Anderen) gesetzt zu sein. Und wenn das Geist-Selbst dieses Andere ignoriert oder verfehlt, ignoriert/verfehlt es zwangsläufig sich selbst. Der Mensch kann also der zweiten Form eigentlicher Verzweiflung erliegen, nur er selbst sein zu wollen, sich nicht in/als jenes drei-synthetisches Verhältnis zum anderen setzen zu wollen. Auch dieses ist eine ‚Krankheit zum Tode‘. Und so kann der Mensch, das Geist-Selbst, verzweifelt sein darin, nicht ein gesetztes Selbst sein zu wollen, sich nicht in ein Verhältnis zu setzen zu dem, der ihn gesetzt hat. Er kann darin verzweifeln, dass er nicht jenes (dritte) Verhältnis sein und leben, dass er kein abgeleitetes Selbst-Selbstverhältnis, kein gesetztes Selbst sein will.

Der Mensch kann also nicht nur verzweifelt sich selbst loswerden wollen, sondern er kann auch verzweifelt er selbst sein wollen. Der Wille, der sich nicht will, ist verzweifelt – verzweifelt darin, sich nicht selbst zu wollen. Aber es ist auch der Wille, der sich will, verzweifelt – verzweifelt darin, sich selbst zu wollen. Die Freiheit ist verzweifelt, nicht frei zu sein. Aber sie ist auch verzweifelt, frei zu sein. Wie kann der Wille wollen, ohne verzweifelt zu sein? Wie kann die Freiheit frei sein, ohne zu verzweifeln? Wie kann der Geist Geist, wie das Selbst Selbst, wie der Mensch Mensch sein?

1      Theologische Suspension der Ethik

Kierkegaards Sprechen über Geist, Selbst und Freiheit hat die ästhetische und die ethische Sphäre – also die von ihm so genannten Sphären der Immanenz – hinter sich gelassen: Das Selbst-Selbstverhältnis ist ein abgeleitetes, gesetztes, daher drei-synthetisches Verhältnis. Daher kann Kierkegaard auch davon sprechen, dass all das, was in jenen Sphären der Immanenz gilt oder gelten mag, prinzipiell revisionsbedürftig und revisionsfähig und gegebenenfalls revisionspflichtig ist. Das Selbst-Selbstverhältnis muss sich bestimmen bzw. es muss sich bestimmen lassen von anderem als denn nur von sich selbst. Im Aufbrechen der Immanenz ist aufgebrochen der Maßstab des Selbstseins. Betreten ist der Raum des von Kierkegaard angezeigten, des also nicht-ethischen, des nicht-allgemeinen Guten, vielleicht auch des a-moralisch Guten. Die Kierkegaard’sche Ethik kann weder eine evaluative noch eine normative Ethik sein. Sie kann keine Ethik des Willens oder der Handlung, sondern muss eine Ethik sein, der des Menschen Geist-Sein als gegründetes Selbst-Selbstsein gegenständlich ist.

Sowohl moralische Regeln als auch die Sätze der auf die Moral menschlichen Handelns reflektierenden traditionellen Philosophie, die Sätze also der evaluativ-normativen Ethik, ergehen – so zumindest in deren deontologisch-kantscher Tradition – im Anspruch, jederzeit für jeden Menschen, und zwar unter denselben Umständen und in derselben Hinsicht, wahr und gültig zu sein. Insofern menschliches Handeln Gegenstand evaluativer oder normativer Urteile der Ethik ist, hat es den dort aufgestellten moralischen Regeln zu entsprechen, geleitet vom Willen zum Guten oder vom guten Willen. So die Perspektive, so das Selbstverständnis und der Selbstanspruch der traditionellen Philosophie, auch der philosophischen Ethik.

Und indem dies für den Menschen als Menschen gilt, gilt es für alle Menschen: Sätze der Ethik sind allgemeine Sätze. Menschen sind untereinander verbunden (auch) in der ethisch sanktionierten Pflicht, dass und wie moralisch zu handeln ist. In dem Maße, dass ein Mensch dieser ethisch sanktionierten moralischen Pflicht zuwiderhandelte, entfernte er sich aus dieser Gemeinschaft des Ethischen. Es würde ihm dann von dieser auferlegt werden müssen, sein pflichtwidriges Handeln als solches, es als Verstoß, ggf. als Verbrechen einzugestehen, sodann seine Bestrafung entgegenzunehmen und zu bekunden, hinkünftig den moralischen Werten und Normen zu entsprechen. So die Ethik, so deren Anspruch.

Sollte daher das Höchste, was der Mensch einsehen und in seinem Denken, Handeln und Leben anstreben kann, jene Übereinstimmung mit ethisch gerechtfertigten Werten oder Normen sein – das Befolgen also des in evaluativen oder normativen Sätzen Geforderten –, und wäre damit die Verrichtung eines vom guten Willen geleiteten Lebens das hinlänglich Höchste, was dem Menschen anempfohlen sein kann, so hätten die Religionen – gleich welcher Art und Botschaft – keine Relevanz mehr, sie könnten von der Ethik nicht unterschieden werden. Religionen wären überflüssig, könnten allenfalls folkloristisch relevant sein. Die Immanenz-Sphäre des moralischen Handelns und der moralisch gerechtfertigten Wert- und Sollenssätze wäre die höchste, sie gälte absolut. Und sie wäre die einzige, in der vom Menschen zu sprechen wäre. An Gott zu glauben, Christ zu sein zumal, könnte diesen Bestimmungen nichts hinzufügen. Auch der Christ wäre Bürger dieser Sphäre der Immanenz, er wäre dem Allgemeinen der Ethik und der Moral gegenständlich und zugehörig. Christen würden ein moralisch gutes, ein ethisch rechtfertigungsfähiges Leben führen – mehr nicht, nichts anderes. Und mit den Mitteln der Moral müssten sie zum Guten befähigt werden: Durch moralische Aufklärung, durch Vorbilder, durch Ermahnung und Reue, durch Reflexion auf Moral – durch Ethik.

Unter Voraussetzung der ausschließlichen Geltung des Ethisch-Allgemeinen wäre es also irrelevant, Christ zu sein. Gegen ethische Normen, gegen den guten Willen zu verstoßen wäre auch beim Christen eine Form des Bösen. Jedes pflichtwidrige Handeln, jedes Heraustreten aus der Gemeinschaft moralischer Pflichten, jedes Herausfallen aus dem (ethischen) Allgemeinen wäre eine Form des Bösen, wäre Sünde. Und es wäre überhaupt eine moralische Form des Bösen, in welcher Situation auch immer und egal unter welchen Umständen außerhalb der Gemeinschaft – außerhalb der Sphären der Immanenz – zu stehen zu kommen, nicht mit ihr übereinzustimmen, ihrem Pflichtenkorsett nicht zu entsprechen, sich gar dem Zugriff gesellschaftlicher Institutionen zu entziehen. Religion und Christsein wären lediglich Funktionen und Prinzipiate des Ethisch-Allgemeinen. Sie hätten außerhalb der Ethik, außerhalb des Allgemeinen, keinen Platz in menschlicher Handlungs- und Lebensbestimmung. Alles gehörte der Immanenz, nichts gehörte der Nicht-Immanenz an. Kein Bedarf und kein Platz für Individualität und Transzendenz.

Kierkegaard aber sah den Platz, den die irreduzible Individualität und Religiosität einnehmen, einnehmen müssen. Den sie einehmen müssen und den nur sie einnehmen können im Leben und Handeln von Mensch und Gesellschaft. Denn als gesetztes Verhältnis habe der Mensch (immer schon) die Sphäre der Immanenz verlassen. Oder auch: Der Mensch sei unableitbar, sein Handeln und Wollen entziehe sich eigentlich und ursprünglich der Moral und dem Hoheitsbereich der ethischen Reflexion. Kierkegaard sah den Platz, dem die Religion zugehört und dem nur dasjenige zugehören kann, was jenseits der Sphäre der Immanenz, jenseits der Selbst-Selbstsetzung liegt. Religion bringt – noch gänzlich ungeachtet eines etwaigen spezifisch-konkreten Glaubensbekenntnisses – die Irreduzibilität menschlichen Seins ein, das Jenseits-der-Sphären-der-Immanenz. Ein Platz, der sich (immer schon) eingestellt hat, weil der Mensch abkünftiger, gesetzter Geist ist, gesetztes Selbst, gesetzter Wille, gesetzte Freiheit – weil der Mensch ein drei-synthetisches Verhältnis ist.

Kierkegaard spricht von dem, was sich hieraus für das menschliche Handeln und für die Ethik ergibt. Er spricht von der theologischen Suspension des Ethischen. Damit antwortet er nicht nur auf die schon von Augustinus und Luther gestellte Frage, wie ein böse gewordener Wille – wie eine Freiheit, die sich verfehlt hat – zurückgelangen könne ins Gute, zu sich selbst, in die eigene Verfügung, in die Freiheit. Offensichtlich nämlich kann dies nicht geschehen durch moralische Ermahnung, Erziehung und Reflexion. Sondern er spricht auch und zuvorderst von der Freiheit und vom Willen so, wie sie jederzeit sind, immer, grundsätzlich. Der Kierkegaard’sche Wille ist der von allem Guten suspendierte Wille, die Kierkegaard’sche Freiheit ist die von aller Ethik und Moral suspendierte Freiheit.
In „Furcht und Zittern“ (1843) wird die von Kierkegaard (bzw. einem dessen Pseudonyme, ‚Johannes di Silentio‘) gleichsam bibel-exegetisch entwickelt: Am Beispiel und als Konsequenz der biblischen Erzählung vom Isaak-Opfer Abrahams. Diese Konsequenz ist zunächst völlig unabhängig von jeder konfessionellen oder gar christlichen Bestimmung. Sie ist – so zumindest Anspruch und Gestalt der Argumentation di-Silentio-Kierkegaards – zwingend schlüssig, sobald das Selbst als gesetztes (drei-synthetisches) Selbst, als gesetztes Verhältnis, in den Blick kommt. Insofern ist die hier von di-Silentio-Kierkegaard entfaltete Folgerung eine philosophische, sie ist noch keine konfessionell-christliche Bestimmung. Aber sie ist eine Folgerung, die ein Gerichtshof ist auch den Christen. An diese nämlich wendet sich Kierkegaard, ihnen will er vor Augen führen, was nicht zweifelhaft sein kann, nähme ein Christ es ernst, Christ zu sein und, zuvor noch, ein gesetztes Selbst zu sein. Kierkegaard will vor Augen führen, was im Ernst nicht zweifelhaft sein kann und doch allzu oft (gleichsam humoresk) zweifelhaft ist, anderenfalls das Christentum anders dastünde, anderenfalls sich Christen anders verhielten, anders sprächen. Anderenfalls das Christentum weniger bürgerlich, weniger sattsam, weniger angepasst wäre. Anderenfalls es also weniger Christenheit wäre. Anderenfalls die Christen die Wahrheit bezeugen würden in dem, was sie sagen und handeln, und in dem, wie sie sich vom Bösen abwenden. Anderenfalls sie ernsthafte Christen wären, Christen im Ernst, Wahrheitszeugen.

Die Sphäre reiner Immanenz (schon immer) verlassen zu haben, religiös zu sein, dann vielleicht auch Christ zu sein, heißt in der Maßgabe des von di-Silentio-Kierkegaard erinnerten biblischen Textes: Handle nicht im Bewusstsein oder in Maßgabe moralischer Pflichten, denn du wirst dir selbst – du wirst deinem (drei-synthetischen) Geist-/Selbstsein – nicht gerecht und kannst dir nicht gerecht werden, solange und in dem Maße du dich in der bloßen Immanenz ethischer Kategorien und Forderungen aufhältst. Verfalle nicht dem Moralischen und nicht dem Stumpf-Geistigen. Folge keinem Hegel und passe dein Denken und Leben nicht dem Gerüst des Allgemeinen ein, etwa in der Weise antiker, sokratisch-platonischer Philosophie und Ethik. Passe es nicht dem Korsett der Regeln, dem Korsett des (tugendhaft) Guten, auch nicht dem Korsett des (Kant’schen) guten Willens ein. Denn du bist ein gesetzter Einzelner. Du stehst prinzipiell immer schon außerhalb jedes Allgemeinen. Denn du bist ein Selbst, ein Selbstverhältnis, ein abkünftiges Selbst, ein gesetztes Selbst-Selbstverhältnis. Hier erst und nur in dem Maße, dass du dieses ernst nimmst, ist deine Freiheit frei, ist dein Geist Geist, dein Selbst Selbst. Dich hingegen einem wie auch immer gearteten Gerüst des Allgemeinen, auch einer Ethik, einzuschreiben und dich loszureißen davon, gesetzt zu sein, oder dich loszureißen von dem, was dich gesetzt hat, hieße, der Verzweiflung verfallen, der Krankheit zum Tode schon fast erlegen zu sein. Du musst jenseits aller Immanenzbestimmungen und aller Ethik zu stehen und zu leben kommen. Du bist abkünftige Freiheit, abkünftiges Selbst, abkünftiger Geist. Gesetzte Freiheit, gesetzter Geist, gesetztes Selbst.

Des Menschen Sein, der Mensch als Mensch kann nicht subsummiert werden unter die Bestimmungen der Ethik, unter die Geltungsausweise allgemeiner Begriffe oder philosophischer Theoreme. Ihm maßgeblich ist nicht ein (ästhetisches) Selbstverhältnis und auch nicht ein (ethisches) Selbst-Selbstverhältnis. Vielmehr ist ihm maßgeblich das dritte Verhältnis, das (religiöse) Verhältnis, das der Mensch als Selbstverhältnis hat dazu, gesetzt zu sein.

So viel und dies kann mit philosophischen Mitteln in Evidenz gesetzt werden, dies ist der Ort, im Anschluss an Kierkegaard philosophisch von der Freiheit des Menschen zu sprechen. Darüber hinaus und für den Christen heißt dieses Maßgebliche dann Gott, vielleicht auch Christus. Maßgeblich ist das Verhältnis, das der Einzelne – nicht der empirische, nicht der solipsistische, nicht der psychologisierte Einzelne, sondern das gesetzte Selbst-Selbstverhältnis – hat zu dem, der es setzt. Für den Christen: Maßgeblich ist das Verhältnis, das der Einzelne hat zu Gott bzw., als Christ, zum Gott in der Welt, zum Ewigen in der Zeit.

Die von Kierkegaard parallel zu seinen pseudonymen Schriften unter eigenem Namen veröffentlichten „Erbaulichen Reden“ (1843 und 1844 jeweils neun Reden) sind teilweise allgemein-religiöser, teilweise christlich-religiöser Provenienz. In Konsequenz der von Kierkegaards Pseudonymen eingeführten philosophischen Theoreme sind sie unzugänglich für jene, die in keinem Verhältnis zu sich selbst stehen, die sich also noch nicht in Existenzinnerlichkeit gesetzt haben. Sie sind zugänglich ausschließlich für jene und sie wenden sich ausschließlich an jene, welche die Verhältnissetzung, die Kierkegaard kraft indirekt-mäeutischer Methode zu erwirken sich anschickt, bereits realisiert haben. Aber auch sie müssen dann noch einen weiteren Schritt gehen. Dieser jedoch kann, genau betrachtet, eben dieses gar nicht sein: Er kann kein Schritt, er muss ein Sprung sein, ein ‚qualitativer Sprung‘.

Von diesen Reden sind jene, die Kierkegaard zeitgleich mit seinen ästhetischen Schriften geschrieben hat, lediglich religiöser Art. Sie sind, in Entsprechung seiner expliziten Zuordnung an anderer Stelle (vgl. S. Kierkegaard, Erb.R.10.43, 101; III, 271), noch keine christlichen Reden, noch keine Predigten. Sie verwenden ausschließlich und können nur verwenden ‚ethische Immanenzkategorien‘. So sind sie ‚spekulativ‘. Das im christlich-religiösen Sinn Entscheidende – die ‚ewige Wahrheit als das Paradox, dadurch, dass sie in der Zeit geworden ist‘ – ist ihnen nicht gegenständlich. Dieses Paradox kann niemals Gegenstand indirekt-mäeutischer oder religiöser, sondern kann ausschließlich Gegenstand christlicher Schriftstellerei sein. Erst sie provoziert und begleitet jenen Schritt bzw. jene Nicht-Vermittlung: Den Sprung hinein in den Glauben, in die Vergebung.

1  Jenseits der Philosophie. Postphilosophie

Kierkegaards Philosophie führt zusammen, was der philosophischen Tradition als Vernunft einerseits und Wille/Freiheit andererseits firmiert hatte, als Denken und Handeln. Eine Zusammenführung, die aber keine Rückbindung an jene Identität ist, die Vernunft und Wille in der antiken und mittelalterlichen Philosophie eingegangen waren, bei Platon und Aristoteles, bei Thomas von Aquin. Eine Zusammenführung vielmehr, die nicht diese Synthese und die überhaupt keine bloß philosophische oder gar Hegelsche Synthese ist noch sein kann. Eine Zusammenführung vielmehr, welche die genannten Explikationen des prinzipiellen Scheiterns überführt –  jene Explikationen, die Vernunft und Wille zu sprachlich-erkennender Synthese führen sollten. Denn Kierkegaard: Die Vernunft des Menschen, gleich wie sein Wille und seine Freiheit, sind Vernunft, Wille und Freiheit eines gesetzten, eines abkünftigen Geistes, eines abkünftigen Selbst. Genauer: Vernunft, Wille und Freiheit sind zugeordnet einem Selbst-Selbstverhältnis im Verhältnis zu dem, der es gesetzt hat. Sie sind nicht zugeordnet einem sokratisch-platonischen Geist, nicht einem aristotelisch-thomanischen Geist, auch nicht einem cartesianisch-kantschen Geist oder einem hegelschen Geist. Der Kierkegaard’sche Geist konstituiert sich als Selbst – als Objekt seines Subjektseins und als Subjekt seines Objektsseins – und ist in diesem Selbstbezug auch und zugleich das Verhältnis zu einem Anderen. Daher kann und will Kierkegaard keine Philosophie der (positiven) Freiheit betreiben, kann und will er sich nicht im Rahmen jener Voraussetzungen aufhalten, die in der Freiheitsphilosophie des deutschen Idealismus selbstverständlich waren und die diese Philosophie in die Höhe des Absoluten, die sie zur absoluten Freiheit, zur Freiheit des Absoluten – zum absoluten Ich – hatte aufsteigen lassen. Das Prinzip des Kierkegaard’schen, des gemeinhin (und oft missverständlich) unter dem Titel einer Existenzphilosophie angeführten Wirkens als (ästhetischer und religiöser) Schriftsteller ist keine Theorie (ist kein Begriff) von Freiheit, sondern ist die ideal-real-dialektische Praxis von Freiheit – ist die Freiheit der Selbstverhältnis-Setzung in actu (con-scientia, con-voluntas) und ist die Freiheit eines gesetzten Selbstverhältnisses. Das Prinzip Kierkegaards (ästhetischer und religiöser) Schriftstellerei ist daher kein Prinzip der Philosophie (mehr). Kierkegaards Prinzip ist nach- bzw. postphilosophisch.

‚Praxis gesetzter Freiheit‘ – auch sie bedarf natürlich eines Begriffs von Freiheit und setzt einen solchen Begriff in Geltung. Auch sie bedarf des philosophischen Durchschreitens. Eines Durchschreitens, das bei Kierkegaard im Ausmaß dessen geschieht, was er uns an Explikation philosophischen Denkens anbietet. Als Akteur einer postphilosophischen ideal-real-dialektischen Praxis von Freiheit hat er ja auch theorie- bzw. begriffsphilosophisch arbeiten müssen. Kierkegaards Philosophieren, vielmehr: Das, was bei ihm an die Stelle bisheriger Philosophie tritt, ist zugleich und von Beginn an nichtphilosophisch. Kierkegaard weigert sich, gleichwohl in prinzipieller Durchdringung, das Feld des philosophischen Denkens, das Feld der einander widerstreitenden philosophischen Systeme und Theoreme überhaupt zu betreten. Von diesem Feld hatten schon Hume und Kant bemerkt, dass die in ihm ausgehandelten Fragen nicht beantwortet werden können, weswegen es ein ‚Kampfplatz‘ endloser Streitigkeiten sei. Denn besagte Fragen entziehen sich jeder (klassischen) philosophisch-metaphysischen und auch jeder kantschen apriorischen Begriffsarbeit und selbstverständlich auch jeder bloß aposteriorischen, also reflexionsphilosophischen Einsichtnahme. Es sind Fragen, deren Beantwortung jede philosophische Praxis selbstwidersprüchlich macht so, wie es Kant als Paralogismen und Antinomien und als Ideal der Vernunft angezeigt hatte.

Eben dieses Feld, das Gebiet theoretischer Philosophie, das Feld der auch cartesianisch explizierten Geist-/Subjektphilosophie hat Kierkegaard zu meiden gewusst. Er hat es gar nicht erst betreten dürfen. Denn er suchte nach wirklicher, nach prinzipiell unstrittiger, nach zweifelsfreier, nach nicht-aporetischer Fundament- und Grund-Legung. Mit Kant gesagt: Er suchte nach einem kategorischen, nach einem notwendigen und ausnahmslosen, nach einem reinen Fundament. Hier war er gleichsam von einem kantianischen Eifer beseelt: Die sich dem Menschen unabwendbar aufdrängenden metaphysischen Fragen bedürfen einer Beantwortung; vor ihnen darf das Denken nicht flüchten, es darf keinem Relativismus Vorschub leisten noch gar einen solchen mit sich führen. Dies die Vorgabe, der Kierkegaard folgte. Und dies auch die Vorgabe, der Kant gefolgt war. Jedoch ist die Fährte, auf der Kierkegaard seine Antwort entwickelte, gänzlich nicht-kantianisch: Keine Postulate, mit denen die reine praktische Vernunft einholen könnte dasjenige, von dem die reine theoretische Vernunft prinzipiell überfordert ist. Denn auch die reine praktische Vernunft ist und bleibt, was sie ist – bloße Vernunft, bloße Philosophie. Als derartige Akteurin von Begriffsbildungen ist und bleibt die Vernunft-Philosophie dem cartesianischen Zweifel ausgeliefert: „Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Sprache ist die Idealität, das Bewusstsein ist der Widerspruch. In dem Augenblick, da ich die Realität aussage, ist der Widerspruch da; denn was ich sage, ist die Idealität. Die Möglichkeit des Zweifels liegt also im Bewusstsein, dessen Wesen ein Widerspruch ist, welcher durch eine Zwiefältigkeit erzeugt wird und selber eine Zwiefältigkeit erzeugt“ (S. Kierkegaard, DO, 155; IV B 1, 146).

Bei Kierkegaard musste die Vernunft rück- und eingebunden werden dem gesetzten Selbst-Selbstverhältnis, dem gesetzten Geist, dem gesetzten Selbst. Er folgte darin der cartesianischen Wendung weg von diesem und weg von allem Zweifeln, von aller Zwiefältigkeit. Kierkegaard folgte der intuitiven Gewissheit, jener Gewissheit also, die ihm im ‚sum‘ des ‚cogito [ergo] sum‘ bzw. im ‚Ich bin, ich existiere; das ist sicher solange ich denke‘ vorab angezeigt war. Kierkegaard folgte der Evidenz des Selbstbewusstseins. Zugleich aber befreite er diese Evidenz und damit die von Descartes installierte Ursprungsidentität allen Gegenstandsbewusstseins: Er befreite alles prädikative Sprechen von dessen Bindung an die Struktur des Bewusstseins, als deren Epiphänomen es daher bei Descartes und Kant letztlich nur hatte auftreten können. Denn eben diese, die Bewusstseinsstruktur, lässt die von Descartes angezeigte ursprüngliche Identität noch im Horizont jener Zwiefältigkeit verbleiben, als die zu agieren und als die prinzipiell zu sein Kierkegaard das Manko des Bewusstseins überhaupt ausmacht, dessen Unzulänglichkeit. Auch also jene cartesianische Bewusstseins-Ursprungsidentität musste von ihm verlassen werden, sollte die Zwiefältigkeit durch einen Gang hin zu einer (noch) ursprünglicheren Identität überwunden werden können. Diese muss auf einer anderen Ebene gesucht werden. Sie muss ein Fundament und Ursprung sein, nicht in den Bann geschlagen der Bewusstseinsstruktur oder der von Kant gezimmerten reinen praktischen Vernunft eines rein-autonomen Willens. Dieses Fundament ist von gänzlich neuer und anderer Art.

Kierkegaard ging hierfür einen Schritt zurück. Er musste im Davor bloßen Bewusstseins suchen, im Davor bloß prädikativer Sprachlichkeit, im Ursprung von Bewusstsein und Sprache. Er musste die Vor- und Nachfrage von Philosophie stellen: Wie kann der Mensch in ein Verhältnis gelangen zum (vollendeten) philosophischen Gedanken, zum philosophischen Argument? Wie kann er überhaupt in ein Verhältnis gelangen zu etwas und zu sich selbst, auch zu Gott? Diese Suche hatte Kierkegaard zum Selbst geführt, besser: Sie hatte ihn geführt zum gesetzten Verhältnis-Selbst, zum drei-synthetischen Selbst. Dieses Selbst war noch nicht im cartesianischen ‚sum‘ ergangen, in der Abhängigkeit eines Bewusstseinsaktes, eines (kantschen) Wollens. Es ist kein Selbst, das eine Immanenz-Bestimmung und Funktion bliebe autonomer Subjekthaftigkeit. Kierkegaards Verhältnis-Selbst ist diesem Bestimmungsgeflecht entbunden. Er ist dasjenige „an dem Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“ (S. Kierkegaard, KzT, 8; XI, 127f.) – und das sich darin zu demjenigen verhält, der es gesetzt hat. Indem sich das Selbst „zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat“ (S. Kierkegaard, KzT, 10; XI, 128).

Ungenutzt ließ Kierkegaard das systematische Potential, das wir bei Descartes darin erblickt hatten, dass die „Prinzipien der Philosophie“ (1644) die Evidenz des ‚sum‘ ausdrücklich nicht nur banden an den Bewusstseinsakt, sondern sie auch im Wollen und Wünschen, ja im Empfinden gegenwärtigte. In der Lektüre Kierkegaards ist das cartesianische Selbst ein Bewusstseins- und Zweifelselbst. Es agiert aus einer Distanz, es agiert als eine Distanz – als Distanz zu sich selbst, als Selbstdistanz, als Polarität. Es agiert nicht im Null-Abstand, nicht als Je-Jetzt, nicht als Gegenwart, nicht als Identität. Kierkegaard durchbrach jedes erstreckte Sein, ohne dem prinzipiell durchaus möglichen Rekurs auf das cartesianische Empfinden nachzugehen. Wäre in diesem ein Null-Abstand, ein Je-Jetzt anzuzeigen gewesen, fern der dichotomischen Struktur allen (bloßen) Bewusstseins? Ist es möglich, das Kierkegaard‘sche Selbst von hier aus, aus der Identität des Empfindens, sich einstellen zu lassen?

Kierkegaards Identität ist keine Bewusstseinsidentität. Sie ist ein Selbst-Verhältnis, das ein Fundament und ein Ursprung ist ohne Fläche, ohne Distanz und Selbststand. Kierkegaards Verhältnis-Selbst ist das Geschehen von Freiheit. Erst hier, erst in der im Selbst angezeigten und in der als Selbst ergehenden Identität der Verhältnis-Ideal-Realität ist positiv eingeholt Kants transzendentalphilosophischr Begriff der Freiheit: Der Kierkegaard’sche (drei-synthetische) Selbstgrund erfüllt den Kant’schen Begriff der Autonomie und überwindet darin zugleich dessen Beschränkung, letztlich nur als begriffene, als (praktisch-)philosophisch postulierte Freiheit evident zu sein. Selbst-Sein und Freiheit – sie sind das Prinzip der Kierkegaard’schen Vor- und Postphilosophie. Die feste Burg, die doch gerade das nicht ist. Sie ist nicht fest. Sie ist Kierkegaards Gegenrede und Kritik aller Philosophie, deren Verhöhnung. Kierkegaard schreibt literatur-philosophische Texte, um Verhältnisbestimmungen zu initiieren, in Bewegung zu setzen. Kraft der indirekt-pseudonymen Form seiner Schriften lässt er das Prinzip einer anderen, der eigentlichen Philosophie agieren – einer Philosophie, die keine Philosophie mehr ist. Sie ist Bewegung. Sie ist Leben. Sie ist Akt. Postphilosophie.

Kierkegaards Schriftstellerei schien zunächst (bloße) Philosophie zu sein, von systematischer Gestalt, im Bemühen, sich zu vollenden, als wäre sie – gleich der Philosophie Platons und aller (insofern überhaupt stets nur platonischen) Philosophie – schon immer vollendet: Systematisches Philosophieren. Tautologisches Philosophieren. Tatsächlich aber hat uns Kierkegaard dahin geführt, die Absurdität eines solchen Vorhabens zu notieren, vor allem aber: diese Absurdität hinter uns zu lassen. Kierkegaard praktizierte eine streng und ausschließlich im Vorfeld seiner Postphilosophie angesiedelte Literatur-Philosophie als Weckruf, aufmerksam zu werden auf das Prinzip jener Postphilosophie – aufmerksam zu werden auf das Verhältnis, das der Mensch nicht hat, sondern das er ist. Ein Verhältnis, das er ist im und als Gesetzt-Sein. Literatur-Philosophie, (selbstbezügliches) Denken im Dienst an der primären Vor- oder Nachsprachlichkeit, an der Übersprachlichkeit eines Selbst-Selbstbezugs. Literatur-Philosophie im Dienst eines Selbst, das in einem wesentlichen Sinn nicht denkt. Nicht denkt und nicht denken kann, ohne doch darin ein nur unmittelbares, ein ignorantes, ein dummes Selbst zu sein. Insofern Kierkegaard auch Nur-Philosophie verfasst, kann diese lediglich eine Literatur- oder Schriftsteller-Philosophie sein. Sie kann nur eine Philosophie sein, die (pseudonym) hervor- und die (mäeutisch-indirekt) anlockt. Sie ist eine Hebammenkunst. Nicht – wie bei Sokrates – um das Verständnis sprachlicher Ausdruckshandlungen, um Gedanken also und Sprache zu entbinden. Sondern um zu entbinden eine Bewegung hinweg von der Literatur-/Schriftsteller-Philosophie und hin zur und als Postphilosophie – hin zur dialektischen Praxis von Selbst-Freiheit. Zur Selbst-Praxis. Zum unableitbaren Handeln des abgeleiteten, des abgestammten und gerade darin und nur so wirklich frei-ursprünglichen Selbst.