Geboren in Aosta an der südlichen Grenze von Burgund, gestorben in Canterbury, ist Anselm von Canterbury (1033-1109) Verfasser philosophischer und glaubensreflektierender Schriften, die durch ihre Grundlegungsversuche  die geschichtliche Entwicklung der Theologie als Wissenschaft prägen sollten. Darüber hinaus – und entgegen vielerorts üblicher Standardrezeptionen Anselm von Canterburys – praktizierte er eine Synthese von Philosophie und Glaubensreflexion (nachmals ‚Theologie‘), in der auch letztere dem Hoheitsrecht der Vernunft unterstellt ist. Damit bietet sich Anselm von Canterbury auch heute als historische Referenz an, Theologie im Anspruch vernünftiger Zustimmungsfähigkeit zu praktizieren. Theologie käme damit auf einem Boden zu stehen, den sie mit säkularer (philosophischer) Rede teilt. Sie käme zu stehen auf dem Boden der Vernunft, auf dem Boden philosophischer Methodik und Evidenz. Innertheologisch könnte Anselm damit zur systematischen Ausgangs- und Kristallisationsquelle einer Theologie werden, die vom Selbstverständnis wissenschaftlicher und zugleich denkender Forschungspraxis geleitet ist.

Anselms Wirken griff Raum in einer Zeit tiefgreifend-revolutionärer Selbstverständigung sowohl christlicher Glaubensreflexion als auch Philosophie. Diese Selbstverständigung betraf die dem Mittelalter bis dahin selbstverständliche Einordnung der Vernunft als einer dem Glauben untergeordneten Referenz- und Geltungsquelle diskursiver Praxis. Anselm von Canterbury löste dieses Unterordnungsverhältnis auf. Gänzlich anders bestimmte er die Beziehung, die in einem Satzsystem zwischen philosophischer Vernunft- und religiöser Glaubenswahrheit bestehen. Denn Glaubensreflexion sollte bei ihm ein ‚nach Einsicht suchender Glaube‘ (‚fides quaerens intellectum‘) sein, geleitet davon, zu ‚glauben, um einzusehen‘ (‚credo, ut intelligam‘).

1. Fides quaerens intellectum – Credo, ut Intelligam

Was gab Anselm zu verstehen, wenn er davon sprach, dass die Glaubensreflexion ein ‚nach Einsicht suchender Glaube‘ (‚fides quaerens intellectum‘) und davon geleitet sein solle,  zu ‚glauben, um einzusehen‘ (‚credo, ut intelligam‘)? Bis heute werden im Rückgriff auf diese programmatischen Formeln Anselm von Canterburys unterschiedlichste, ja widersprüchliche Modelle von Theologie entworfen und gerechtfertigt. Sie sind jedoch vereint darin, den Glauben innerhalb der theologischen Arbeit den Grund und die axiomatische Geltungsbasis aller theologischen (wissenschaftlichen) Sätze sein zu lassen. In all diesen Modellen und Inhalten von Theologie agiert das ‚credo, ut intelligam‘ Anselm von Canterburys als Trennlinie, die (normal-säkulare bzw. natürliche) philosophisch-wissenschaftliche Vernunft (Jahrzehnte nach Anselm wird Thomas von Aquin hier von der Theologie als Wissenschaft sprechen) unterzuordnen der theologischen Vernunft (Thomas wird hier von der Theologie als Weisheit sprechen). Jedoch blockiert diese Trennlinie, einmal in Geltung gesetzt, Theologie und Glaubensreflexion darin, der tatsächlichen Programmatik Anselm von Canterburys systematisch zu entsprechen. Denn diese bestand darin, nur zwingende Vernunftgründe (‚rationes necessariae‘) anzuführen.

Mitunter wird in der Gegenwartstheologie der Versuch unternommen, eine Rationalität paralleler Wissenschaftsdiskurse zu installieren: Die verschiedenen (vernunftgenerierten) Wissenschafts-, (glaubensgenerierten) Theologie- und (erlebnisgesättigten) Religions- bzw. Weltanschauungsdiskurse stünden in einem Verhältnis, das als solches nicht weiter systematisiert werden könne, da sie unterschiedlichen Rationalitätsstandards und Sinnvorschriften folgten. Zueinander verhielten sie sich daher wie parallel verlaufende Linien, untereinander wären sie also weder rational entscheidungsfähig noch rational entscheidungspflichtig.  Entsprechend hätte Theologie als Kontrastwissenschaft zu agieren, als eine Wissenschaft, die (irgendwie, in jedem Fall aber) prinzipiell anders ist als anderen Wissenschaften.

Aber auch ein solches Modell von Theologie widerspricht der ihr von Anselm von Canterbury zugedachten Gestalt, kann sich also gerade nicht auf ihn berufen. Denn Anselm entwickelte Glaubensreflexion anders. Er reagierte auf die (seinerzeit lediglich denkmögliche) Infragestellungen christlichen Glaubens mit der an Augustinus erinnernden Programmatik, Einsicht zu erlangen in die Glaubensgehalte (‚Fides quaerens intellectum‘). Doch während (der zumindest späte) Augustinus das Streben nach Wissen an eine dem Wissen übergeordnete und ausschließlich im Glauben und als dessen Verdienstlichkeit ergehende Gesamtorientierung band, bindet Anselm dasjenige, was erkannt, gewusst und gedacht werden kann, weder an den Glauben noch an die Bibel, sondern ausschließlich an die Vernunft. Die Vernunft selbst ist das Vermögen des/zum Absoluten: Der Menschengeist sei ‚Spiegel und Bild des höchsten Wesens‘, mit dem Vermögen, ‚dessen eingedenk zu sein und das zu erkennen und zu lieben, was das Beste und Größte von allem ist.‘ Entsprechend der Verwurzelung Anselm von Canterburys in der überlieferten (neu-)platonischen Erkenntnismetaphysik inhäriert dieser Vernunft zudem (zumindest prinzipiell) ein absolut-idealer Maßstab, Vernunft ist ihm damit das hinreichende Vermögen der Selbstorientierung. Für Anselm besteht dieses Vernünftigsein des vernünftigen Wesens in dessen Fähigkeit des Unterscheidens zwischen ‚Gerecht und nicht-Gerecht, zwischen Wahr und nicht-Wahr, zwischen Gut und nicht-Gut, zwischen mehr- und weniger-Gut‘.

Diese Auffassung von Vernunft und Philosophie wird Jahrzehnte später, wenngleich noch nicht in Rezeption der Aristotelischen Schriften zur Methodik und Logik wissenschaftlicher Argumentation, bei einem Protagonisten des Universalienstreits traditionsbildend maßstäblich gesetzt werden, nämlich in Petrus Abaelards Definition der Philosophie und Logik als Unterscheidungswissen (‚scientia discernendi‘). Anselm von Canterburys unterscheidende Vernunft (‚ratio discretionis‘) kann, will und soll der Herrscher (‚princeps‘) und Richter (‚iudex‘) über alles im Menschen sein. Anselm ordnet dieses Unterscheidungswissen dem bloßen Handlungswissen (‚scientia agendi‘) als Möglichkeitsbedingung vor bzw. über. Während dieses nämlich aus Lebenserfahrung gewonnen sei und in konkreten Entscheidungssituationen aktualisiert werde, enthalte jenes, eine Abstraktionsstufe höher, die Maßstäbe und Kriterien des Handlungswissens. Es sei also das theoretische Wissen über die Maßstäbe, zwischen Gut und Böse zu unterschieden. Die Anselmsche Vernunft befragt christliche Glaubensgehalte, etwa die Inkarnation, das Leiden und Sterben Jesu Christi oder die Existenz Gottes. Sie tut dies im Aufweis (nicht nur guter, sondern) logisch notwendiger Gründe, kraft unbezweifelbarer, letztlich also apriorischer Argumente: Gründe und Argumente, die Bestimmungsgründe der Vernunft selber sind, Prämissen oder deduktive Folgerungen des Vernunftbegriffs Anselms.

Anselm von Canterburys Argumentation beanspruchte, eine rationale Einsicht in das Geglaubte zu erbringen. Sie praktizierte keine begriffslyrische Abbreviatur einer anders-rationalen oder kontrastwissenschaftlichen theologischen Vernunft. Selbstverständlich aber konnte Anselm von Canterbury, hier von einer rechten Ordnung (‚rectus ordo‘) sprechend, erst nach vorangehender spiritueller wie lebenspraktischer Glaubensfestigung auch eine wissenschaftlich-philosophische Praxis anheben lassen. Nur so konnte ihm das Ordo-Denken gewahrt bleiben, das dem Mittelalter unhinterfragt zentral war.

2. Erkenntnismetaphysische Prämissen

Anselm von Canterbury konnte und wollte den Glauben nicht von einer beweiskräftigen Theorie abhängig machen. Hierin war er von prinzipiellen Überlegungen geleitet. Diese betrafen einerseits den Glaubensakt, andererseits die Natur der menschlichen Vernunft. Letztere war als mittelbare Vernunft für Anselm von Canterbury immer auch irrtumsfähig, daher im Ergebnis ihrer Begriffs-, Urteils- und Schlussbildung lediglich ‚auf Zeit‘ gültig. Die (letzte, tiefste) Wahrheit würde dem Menschen erst in der jenseitigen glückseligmachenden Schau Gottes einsichtig, nämlich unmittelbar einsichtig werden können. Und der Glaubensakt dürfe, so die mittelalterlichen Voraussetzungen Anselm von Canterburys, nicht in einer zwingenden Einsichtnahme bestehen, würde er dann doch seiner Verdienstlichkeit und Heilswirkung verlustig gehen. Das (ausschließlich) nach Kriterien der Rationalität erfolgende Arbeiten der Anselmschen Glaubensreflexion kann, darf und will also den Glauben nicht ersetzen. Wohl aber kann, darf und muss der Glaube des einzelnen Menschen nach ausschließlich vernünftiger Einsicht suchen. Als jene unmittelbare Einsicht, die in der glückselig machenden Schau Gottes gewährt wird, ist der Glaube Vollgestalt und eigentliches Ziel menschlichen Lebens. Hier steht Anselm von Canterbury ganz nah bei Augustinus. Und er tut dies auch, wenn er von jenem Glauben spricht, der vom rationalen Erkennen vorausgesetzt wird immer dann, wenn es nach notwendigen Vernunftgründen fragt und also (epistemisch) glaubt, dass das Seiende grundsätzlich intelligibel ist.

Die glaubensreflektierend-theologische Einsicht i. S. Anselm von Canterburys ist zudem abhängig von explizit religiösen Glaubensgehalten und -akten. Sie ist von ihnen aber, anders als bei Augustinus, nur insofern abhängig, als dass sie motiviert ist vom religiösen Glauben (der verstanden sein will) und vom Geglaubten. Das Verstehen selbst jedoch der Glaubensgehalte und -akte kann und muss bei Anselm von Canterbury gänzlich und ausschließlich einsehend-rational geschehen, unterliegt also den Regeln und Maßgaben ausschließlich der Vernunft.

Allerdings müssen die erkenntnismetaphysischen Prämissen des theologischen Vernunftbegriffs Anselm von Canterburys beachtet werden. Und es müssen die weltanschaulich-religiösen Prämissen seiner in axiomatischer Methodik fortschreitenden Argumentationsführung beachtet werden. Dies aber immer eingedenk dessen, dass das Vorliegen prinzipiell kritisierbarer erkenntnismetaphysischer oder weltanschaulicher Prämissen als solches der Rationalität axiomatischer Gedankenführungen, mithin deren logischer Vollständigkeit und Schlüssigkeit, nicht widerspricht. Hingegen kann ein nicht philosophisch-rational, sondern kontrasttheologisch qualifiziertes theologisches Geheimnisdenken (‚Glaubensmysterium‘) – wie es oft, aber irrtümlich im Rekurs auf Anselm von Canterbury betrieben wird – seine Sätze nicht methodisch rechtfertigen, noch ist überhaupt zu sehen, wie es sich auf Anselm berufen könnte. In der denkenden Selbstkonstitution der Theologie – also in der Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie – kann der Glaube nicht von vornherein als ein Mysterium aufgefasst werden. Ein Mysterium ist prinzipiell nicht rational bzw. nicht methodisch gesichert ausweis- und vermittelbar. Insofern die Zugangsmöglichkeiten zum Glauben und der Glaubensakt an ihnen selbst dem Interpretationsschema des Glaubensmysteriums folgen, sind sie der Vernunft nicht zustimmungsfähig. Was immer auch die Gehalte des religiös-christlichen Glaubens sein mögen: Ihr Geheimnis kann nicht darin liegen, dass sie denkend-vernünftiger Konstitution und Selbstauslegung entzogen wären. Was natürlich nicht meint, dass sie in subjekt-rationalistischen Verweisungszusammenhängen aufzugehen hätten. Dies insgesamt darzulegen ist Aufgabe der (philosophisch grundgelegten) theologischen Wissenschaftspraxis.