Ein Philosophieren, das sich hineinbegibt in jene Horizonte, die ihm von Kierkegaard und Nietzsche oder aber vom Neo-/Poststrukturalismus eröffnet werden, entsagt sich jener Gesten, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden die gleichsam platonistische Grundgestalt der Philosophie als Philosophie gewesen sind. Es entsagt sich des Hoheitsrechts einer ihrer selbst gewissen, zumindest aber einer dem Ideal der Selbstgewissheit anhängenden und von ihr aus anhebenden Vernunft. Es entsagt sich einer Vernunft, die ihre Selbstgewissheit sucht, um sich ihrer als Fundament des eigenen Tuns gleichsam herrschaftlich bedienen zu können. Nach der Gewissheit der Gegenstände (‚Natur‘), nach der Gewissheit des Transzendenten (‚Gott‘) und nach der Gewissheit des Erkennens (‚Rationalismus‘) wie des Selbstbewusstseins (‚Ich‘) ist der Philosophie auch die Gewissheit ihrer selbst abhandengekommen. Abhandengekommen ist der Zugriff auf diese Gewissheit, ist das Hoheitsrecht autonomer Verfügung, das Hoheitsrecht der Ermächtigung. Es ist eine Depotenzierung. Aber es ist eine Depotenzierung, die eben dieses gar nicht ist. Sie ist keine Entmachtung. Vielmehr wohnen wir dem Fallen eines Vorhangs bei, gewoben aus jenen Illusionen, deren Namen nur die alten Gewissheiten waren. Im Fallen des Vorhangs ist dem Blick nunmehrigen Philosophierens keine Bühne dargeboten, kein Raum ist erneuter Inszenierung eröffnet. Kein Raum und keine Welt, die der Philosophie Heimstatt sein könnten. Aber auch kein Raum und keine Welt, die ihr preisgegeben wären. Dem Blick ist keine Tiefe vergönnt, nichts, in das hinein er zu blicken und aus dem er reflexiv die eigene Position zu gewinnen vermöchte, um seine Koordinaten zu formulieren, um seine Perspektive zu festigen. Kein Raum, keine Koordinaten, keine Perspektive. Daher auch keine Inszenierung und keine Möglichkeit der Inszenierung. Daher auch kein Blick. Daher auch keine Möglichkeit zu blicken. Ein Philosophieren, das sich als Entsagung aller Blicke entdeckt (und damit als Entsagung aller Räume, Koordinaten, Perspektiven). Ein Philosophieren aber, das sich zugleich darin und trotz allem jenen Blicken verdankt, als die ihm die Geschichte des philosophischen Denkens zugewiesen war. Es ist daher keine Nicht-Philosophie und keine An-Statt-Philosophie. Es folgt keinem Nicht-Bewusstsein. Es ist eine Nach-Philosophie, eine Postphilosophie.

Diese Postphilosophie verweigert sich nicht dem systematischen Denken, nicht dem methodischen Rechtfertigungsanspruch. Aber sie hält sich auf in jener ursprünglichen cartesianischen Spurengabe, die dem ‚Solange-Ich‘[1] erwachsen ist, die also erwachsen ist dem cartesianischen Kontinuum einer dem Denken, dem Zweifeln und Einsehen, dem Bejahen und Verneinen, dem Wollen und Nichtwollen, dem bildlichen Vorstellen und Empfinden[2] beiwohnenden ‚conscientia‘ (‚Sich-selbst-Gegebenheit‘). Einer Beiwohnung, die als solche vernommen wird im Modus der Erfahrung, im Modus ursprünglicher Erfahrung: Denken (Zweifeln, Einsehen, Bejahen, Empfinden, …) und (beiwohnende) Erfahrung; Akt und (beiwohnende) Haltung; Distinktion und (beiwohnende) Integration; Teilung und (beiwohnende) Entgrenzung; Diskontinuität und (beiwohnendes) Kontinuität; Chronologie und (beiwohnende) Diachronie; Zeit und (beiwohnende) Gegenwart. Beider Dual-Identität – diejenige also von Erfahrung und Bewusstsein – (nicht zu denken, sondern) zu sein, genau dies ist die Gestalt jener Postphilosophie. Sie denkt (zweifelt, sieht ein, bejaht, empfindet, …) und sie lässt beiwohnen. Postphilosophie lebt. Sie spricht auch Erfahrungen aus. Darin ist sie erzählend und handelnd, darin führt sie hin zur Praxis: Zur Praxis der Erfahrung. Sie ist Kunst, insofern Gegenstand und Vollzug der Ästhetik. Sie ist aber auch Kult und Ritus. Sie ist Opfer. Sie ist auch Liturgie und Gottesdienst. Sie gehört dem Künstler zu, dem Priester, dem Therapeuten. Sie bezeugt, sie ist Wahrheitszeuge. Sie ist Akteurin eines Tun-Denkens, ‚Akteurin des guten Lebens‘: Akteurin einer Einheit, die eine Differenz mit sich führt und diese Differenz als Dynamik polarisiert, als ‚Denk-Erfahrung‘ oder ‚Erfahrung-Bewusstsein‘.

Es geht um die ‚Ethik des guten Lebens‘. Das, was sie ist, diese ‚Ethik des guten Lebens‘, ist nicht einfach da, wir finden sie nicht vor, wir folgen ihr nicht und schon gar nicht befolgen wir sie. Sondern sie stellt sich je ein in der und als die Identitätspolarität von Erfahrung-Bewusstsein, in der und als die Postphilosophie. Nur die gelebte ‚Ethik des guten Lebens‘ ist, was sie ist. Das gute Leben aktualisiert und realisiert sich je jetzt, indem es seine Konstruktion findet in und als ideal-reale Praxis von Freiheit, in und als dialektische Praxis von Freiheit.

Als Erfahrung-Bewusstsein.

Als ‚Solange-Ich‘.

Als Solange-Ich.

Diskontinuität (Bewusstsein/Wesen) und Kontinuität

Praxis der Freiheit? Praxis des guten Lebens? Eine Absage an jedes als Bewusstsein ergehendes Sich-selbst-schon-immer-vorweg-Sein. Kein Immer, kein Sein und kein Bewusstsein-Sein, das seine Herrschaft über das Leben aufzubieten vermöchte, darin die Verknechtung mit sich führte. Keine Moral-Ethik, keine Spießbürgermoral. Kein ‚Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht; aber man ehrt die Gesundheit‘ (Nietzsche). Und auch keine Sklavenmoral. Überhaupt keine Moral. Bataille:

„Die Schwierigkeiten, die Nietzsche antraf – als er Gott fallenließ und das Gute fallenließ, aber gleichwohl erglühte über die Leidenschaft derer, die sich für das Gute oder Gott töten ließen –, ich traf sie auch meinerseits an. Die entmutigende Arbeit, die er beschrieben hat, wirft mich nieder. Aber der Bruch mit den moralischen Entitäten gibt der Atemluft eine so große Wahrheit, dass ich lieber als Krüppel leben oder eher streben möchte als in Knechtschaft zurückzufallen“ (G. Bataille, Nietzsche, 12f.).

Praxis der Freiheit? ‚Ethik des guten Lebens‘? Eine Absage auch an jedes zur Pseudoevidenz der Unmittelbarkeit degeneriertes So-bin-ich-eben oder So-fühl-ich-halt. In solchem ist keine Einsicht erlangt in die Kontingenz und Brüchigkeit unmittelbarer Bewandtnis. Dieser Einsicht wird vielmehr starrköpfig getrotzt. Der Trotz erhebt sich zu seinem eigenen Gott. Zu einem Gott, der nur ein Ignoranten-Gott sein kann. Zu keinem Gott, der Achtung verdiente. Ein trotziger Glaube. Die zum Gott erhobene Brüchigkeit wird zum Ganzen eines Gottes, der doch nicht verbergen kann, kein Ganzes, sondern brüchig, die Addition von Teilen und Teilchen zu sein: Kein Ganzes eigenen Handelns, kein Ganzes eigenen Denkens, kein Ganzes eigener Erfahrung. Kein Leben. Kein Ursprung. Kein Grund. Wie abwegig sie ist, die unmittelbare Bewandtnis, die Reduktion damit des Lebens auf biologistische oder psychologistische Evidenz und Herrschaft. Auch hiergegen Bataille: Keine Verknechtung. Keine Kulturpraxis des ‚Kleinen Menschen‘, kein „Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus“ (F. Nietzsche, Zarathustra, 19), kein Leben des „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würg“ (F. Nietzsche, Zarathustra, 274).

Das Schreiben Batailles fokussiert sich im Widerstand gegen eine Kultur, die hinter jener Dialektik zurückbleibt, die uns von Hegel eröffnet wurde – gegen eine Kultur, die zurückbleibt hinter der phänomenologisch-ontologischen ‚Erfahrung (Erfahrung-Bewusstsein)‘. Bataille bleibt jedoch bei dieser Dialektik nicht stehen. Und natürlich verbleibt er nicht beim ‚letzten Menschen‘ und nimmt er keine Zuflucht bei der Botschaft vom Tod Gottes und beim Pathos des Übermenschen. Bataille folgt vielmehr der Phänomenologie eines sich (höher) entwickelnden Denk-Erlebens, einer sich höher entwickelnden ‚Erfahrung (Erfahrung-Bewusstsein)‘. Er formuliert hierzu, er spielt durch das Geschehen von Kontinuität und Diskontinuität. Er führt uns beide nicht vor als Alternativen einer Wahl, auch nicht (aristotelisch) als naturphilosophische Grundoptionen der Bewegung. Sondern er übergibt sie uns als gegenwärtige Zwiespältigkeit und als zwiespältige Gegenwärtigung des einen Lebens selbst. Prototypisch dies in einer kleinen Passage einer seiner populärsten Schriften, der „Erotik“ (1957).

Die Erotik

Das Streben nach Schönheit, nach der schönen Frau ist ein bleibend zwiespältiges Bemühen, und das, was wir im erotischen Leben erfahren, ist eine Bewegung in und als diese Zwiespältigkeit. Bataille lässt das Streben nach Schönheit, bzw. besser: Er lässt die Erfahrung, die mit dem Streben nach Schönheit einhergeht, darin bestehen, durch
„einen Bruch hindurch die Kontinuität zu erreichen, aber zugleich auch, ihr zu entgehen. […] Die Vermehrung stört eine gewisse Einfachheit des Wesens; ein Exzess zerstört die Grenzen, führt auf irgendeine Weise zum Überströmen“ (G. Bataille, Erotik, 139).

Diese Erfahrung ist keine Erfahrung mehr, ihr steht nichts gegenüber, was nicht sie selbst wäre. Diese Erfahrung ist vielmehr Kontinuität – und das Brechen von Kontinuität.

Vordergründig gilt: Dem (vermehrenden) Exzess, dem Überschreiten entgegen und ihm zur Wehr steht dasjenige, was in der philosophischen Tradition als Wesen bezeichnet wird. Denn das Wesen ist das Wesen und das Wesen ist das Wesen. Es ist nämlich nichts anders. Damit hat sich das Wesen schon immer auf eine Grenze eingestellt, ja, es „identifiziert diese Grenze mit dem, was es ist“ ( G. Bataille, Erotik, 139). Das Wesen an ihm selbst ist die Grenze, ist der Bruch, ist die Negation jedweder Kontinuität, jedes Überschreitens.

Bataille weiter: Das Wesen ist zwar Grenze, es ist jedoch zugleich am Wesen, diese Grenze aufzuheben, ja, die „Grenze ist nur da, um aufgehoben zu werden“ (G. Bataille, Erotik, 139). An ihm selbst ist das Wesen immer auch der Bruch mit jenem Bruch (der es ist), ist es immer auch (als) Streben nach Kontinuität. Zugleich Bruch und Brechen des Bruchs, abgrenzender Bruch wie fortwährendes Streben nach Kontinuität zu sein, liegt das Wesen schon immer eingebunden, liegt es gestürzt in eine Zwiespältigkeit.

Bataille weiter: Jedes Streben des Wesens – nicht das bloße Wünschen oder Wollen, sondern das Streben – sucht Kontinuität, sucht Entgrenzung, versucht den Bruch. Jedes Streben, auch und gerade das Streben nach Schönheit und dem Schönen, sucht Kontinuität. In kraft wessen kann das Wesen (s)eine Grenze überschreiten, kann es Kontinuität sein? In kraft der Angst, des Schreckens. In kraft der Scham. Angst, Schrecken, Scham zeigen die Grenze an. Und sie zeigen an die Grenze, zu deren Überwindung sie zugleich verlocken. Sie verheißen die Erfahrung der Kontinuität, zugleich beziehen sie ihre Kraft aus jener Grenze (aus jenem Wesens), deren Überschreitung, deren Bruch sie doch verheißen. Diese „zwiespältige Bewegung hört nie auf, zwiespältig zu sein“ (G. Bataille, Erotik, 139). Phänomenologie eines (‚ontologischen‘) Geschehens.

Erotik I. „Die Schönheit, die in ihrer Vollendung das Animalische ausschließt [zu ihrer Grenze hat], wird so leidenschaftlich begehrt, weil gerade sie durch den Besitz in animalischer Weise beschmutzt wird [ihren Exzess in der Animalität findet und erfährt]. Man verlangt nach ihr, um sie zu besudeln; nicht ihretwegen, sondern um jenes Geschmacks der Freude willen, der in der Gewissheit liegt, sie zu entweihen“ (G. Bataille, Erotik, 140). Wir begehren die Schönheit, um sie zu entweihen, besser: Wir begehren die Schönheit, um ihre Entweihung genießen, um jegliche Entweihung genießen zu können. Wir begehren sie um der Kontinuität willen, die die Grenzen des Wesens aufhebt, ohne sie zu verlieren – ohne das Wesen (ohne sich selbst) zu verlieren.

Erotik II: Die „Schönheit (die Menschlichkeit) einer Frau [trägt] dazu [bei …], das Animalische des Sexualaktes fühlbar – und anstößig – zu machen“ (G. Bataille, Erotik, 140). Erst das, was das Wesen ist, ermöglicht seine Überschreitung. In den Genuss der Kontinuität, in seinen Exzess gelangt das Wesen im Maße der Schönheit, die ihm zu brechen gewährt wird. Im Maße der Schönheit und der größtmöglichen Schönheit, der Menschlichkeit und der größtmöglichen Menschlichkeit. Im Maße des Bruchs. Im Maße der Grenze jenes (anderen) Wesens, das sich dem (eigenen) Wesen anbietet, sich von ihm brechen zu lassen, erlangt das (eigene) Wesen den Genuss der Kontinuität. Höchstes Maß der Menschlichkeit: Vernunft, Kultur. Erotik. „Diese zwiespältige Bemühung hört nie auf, zwiespältig zu sein“ (G. Bataille, Erotik, 139).

Ur-Identität, ‚Erfahrung (Erfahrung-Bewusstsein)‘: Im fortwährenden Geschehen, im Spiel von Diskontinuität und Kontinuität, das höchst mögliche Maß des Lebens erfahren – des Lebens Übermaß. Eine Erfahrung, die des Bruches bedarf und die den Bruch vollzieht und schon immer vollzogen hat. Und die doch das Wesen nicht aufkündigt, nicht verliert. Den Bruch, der das Angestrebte als Wesen ist, und den Bruch mit diesem Wesen. Eine Erfahrung, die höchste Menschlichkeit, die größte Schönheit herbeiruft und ihrer bedarf. Das Leben höchstmöglicher Vernunft. „Nichts ist für einen Mann deprimierender als die Hässlichkeit einer Frau, neben der die Hässlichkeit der Organe und des Geschlechtsakts nicht mehr hervortreten“ (G. Bataille, Erotik, 140). Nichts für den Menschen deprimierender als eine Menschlichkeit, ein Wesen, eine Geistigkeit, kurz: nicht ist deprimierender als ein Bruch und eine Diskontinuität, neben der die Unmenschlichkeit, das Nicht-Wesen, die Nicht-Geistigkeit, kurz: neben der die Kontinuität, die Animalität nicht hervortreten können. Ein (lediglich) kleiner Bruch, eine (nur) geringe Diskontinuität hingegen: Das Nirwana der Nicht-Geltung. Das geschwärzte Einerlei der Verzweiflung, der Nicht-Wiederholung (Kierkegaard). Das Einerlei des Nicht-Augenblicks, der Angst, der aufgekündigten Erlösung. „Ich möchte ein Baum sein“. Nichts ist für den Menschen deprimierender als eine Menschlichkeit, neben der die Unmenschlichkeit und Animalität, die Kontinuität und der Tod nicht hervortreten können, da nicht ist Menschlichkeit, da nicht ist Wesen, da nicht ist Geist. Was nicht ist, kann nicht überschritten werden, kann seinen Exzess nicht finden und kann ihn nicht schenken. Was nicht ist, kann nicht gebrochen werden. Deprimierend – keine Menschlichkeit, die überschritten werden könnte.

Höchstmaß des Wesens. Höchstmaß der Überschreitung.

Leben.