René Descartes steht an einem zentralen Wendepunkt europäisch-abendländischen Denkens. Er ist bis heute innerhalb der allgemeinen Ethik, noch mehr aber in verschiedenen evaluativ-normativen Bereichsethiken – etwa in der Tier-, in der Umwelt- und in der Technikethik – entscheidende geschichtliche und systematische Rezeptionsquelle, darin sehr oft auch Gegenstand entschiedener Kritik.

Mittelalterliches Denken hatte in vielerlei Hinsicht seinen Ausgang genommen von Aristoteles, besonders – und in Absehung von den wissenschaftsmethodischen Belangen der logica nova – von dessen Tiefengrammatik der Sprache und dessen Raum- und Bewegungstheoremen. Vor allem hatte es seinen Ausgang genommen vom aristotelischem Weltordnungs- und Sprachprinzip einer beharrlich-unveränderlichen Substanz und einem als Identität mit dem ‚νοῦς‘ [‚nous‘] gefassten ‚λόγος‘ [‚lógos‘]. Neuzeitliche Naturwissenschaft und Geistphilosophie schloss sich hingegen nicht den realistisch-thomanisch-aristotelischen, sondern den rationalistisch-nominalistischen Positionierungen an. In der Neuzeit wurden – auch in Radikalisierung der Naturwissenschaft zu einer auf mathematisch-exakte Operationalisierung reduzierten Universalwissenschaft – die mittelalterlich-thomanisch-aristotelischen Vorgaben verlassen und verschiedene Möglichkeiten installiert, die Rede des christlichen Glaubens von Gott und den göttlichen Dingen nicht mehr natur-, sondern geistphilosophisch zu rekonstruieren. Denn die Neuzeit realisierte vor allem eine Neuinszenierung der Geistphilosophie. Sie realisierte die Subjektphilosophie. Denn zwar blieb Gott in philosophischer und theologischer Diktion weitgehend der grundlegende Boden, der in systematischer Evidenz installiert zu sein hatte, um menschliches Denken und Handeln (sittlich) leiten und rechtfertigen zu können. Doch mit der alternativen methodischen Generierung einer philosophischen Gottesrede, sich geist- bzw. subjektphilosophischer Systematisierung zu verdanken, veränderten sich in der Neuzeit auch der (philosophische) Gehalt und die Funktion der Rede von Gott. Und es veränderten sich Maßstab und Kriterien einer in Bezug auf Gott grundgelegten Sittlichkeit. Diese Gesamtentwicklung betrieben und der europäischen Gesellschaft-, Kultur- und Technikgeschichte eingetragen zu haben, ist die herausragende Leistung von Descartes.

1      (Methodischer) Zweifel und Selbstbewusstsein

In der durch Descartes installierten und seitdem vielgestaltig fortgeschriebenen ‚Revolution der Denkungsart‘ nahm die Philosophie ihre Grundlegung und ihren Ausgang nicht mehr – in entweder platonischer oder aristotelischer Diktion – bei einem Gegenstandsbewusstsein, dessen Validität aufgrund einer sprach-/zeichentheoretisch unterstellten ideal-realen Identität von („objektiver“) Gegenstandswelt und („subjektiver“) Gedankenwelt (irgendwie) als gesichert zu gelten hätte. Vielmehr nahm die Philosophie nun ihre Grundlegung und ihren Ausgang von einem Erkennen her, das ausschließlich dem Selbstbewusstsein zugänglich und das zugleich die ursprünglich-primäre Gestalt und das Prinzipiat dieses Selbstbewusstseins ist. Damit gestaltet sich die cartesianische Philosophie völlig anders als jene antik-mittelalterliche Philosophie. An letzterer hatte sich der nominalistische Zweifel im Rahmen des mittelalterlichen Universalienstreits entzündet. Diesem Zweifel an der Möglichkeit geltungsdefiniter Sätze des Gegenstandsbewusstseins zu wehren war die cartesianische Absicht. Descartes will ihr gerecht werden, indem er das Gegenstandsbewusstsein als eine sekundär-abgeleitete Bewusstseinsgestalt indiziert. Denn ihr gehe epistemisch wie ontologisch voraus eine andere, die primär-ursprüngliche Gestalt von Bewusstsein: Das Selbstbewusstsein. Dessen Entbergung als Grundgebung wird von Descartes durch die Installation eines spezifischen methodischen Verfahrens ermöglicht, durch den universalen Zweifel. Nur mittels seiner will er den philosophischen Gehalt des Selbstbewusstseins ausweisen können, es nämlich als den neuen Grund kennzeichnen, zudem als den Garanten von Erkenntnissicherheit und Zweifelsfreiheit installieren.

Mit dem Universalienstreit war der mittelalterlichen, war der platonischen und aristotelischen, dann auch der thomanischen Metaphysik eine sprach- und erkenntniskritische Herausforderung erwachsen: (a) Sprachliche Zeichen (Wörter) haben keinen vom Rede-Subjekt unabhängigen, keinen eindeutig-zweifelsfreien Gebrauchswert, sie agieren nicht als ‚universale ante rem‘; (b) sprachliche Zeichen vertreten keine sprachunabhängig-gegenständliche Wirklichkeit; (c) der Wahrheitswert eines Satzes ist unklar; (d) zeichengebundener Sprachgebrauch widersetzt sich einer Verständigung in der Sache. Dieser im Nominalismus ergangenen Unterminierung der Sprache und des Erkennens nicht erliegen, in eins damit die Geistphilosophie nicht als prinzipiell unmögliches Unterfangen gänzlich von der Agenda philosophischen Wissens streichen zu müssen, verlangte zunächst danach, die im Universalienstreit artikulierten Konzepte nominalistischer Provenienz aufzugreifen, sie dann aber zu befreien sowohl von ihren sprach- und erkenntnisnivellierenden als auch von ihren antimetaphysischen bzw. antigeistphilosophischen Evidenzen. Diesen Herausforderungen stellte sich Descartes.

Um ihnen gewachsen zu sein, wollte und konnte Descartes den nominalistischen Einwänden nicht durch einen erneuten Rekurs auf die althergebrachten, auf die traditionellen Gehalte der philosophischen Überlieferung wehren. Denn zu schwerwiegend, zu überzeugend waren die Einwände, zu tief saß die intellektuelle Unsicherheit, die sich mit dem Aufkommen der nominalistischen Kritik im Denken der Gelehrten und hierbei besonders an den europäischen Universitäten breitgemacht hatte. Vielmehr betrieb Descartes die Radikalisierung jener Einwände bei gleichzeitiger Umkehrung ihrer Stoßrichtung: Um die nominalistische Verunsicherung zu überwinden, installierte er ein spezifisches methodisches Verfahren der Erkenntnissicherung, das Verfahren eines nochmals über den nominalistischen Zweifel hinausgehenden, eines universalen Zweifels. Als Resultat der Anbringung dieses Zweifels – des Zweifels nämlich an allen prinzipiell nur möglichen Gehalten empirischen und (reflexions-)philosophischen Wissens – konnte er eine Instanz sichern, die in der Lage zu sein versprach, einerseits die Erkenntnis- und Sprachverunsicherung, die mit dem vormaligen nominalistischen Zweifel aufgebrochen war, als gegenstandslos zurückzuweisen, und andererseits zum Garanten der Validität künftiger Philosophie, Metaphysik, Handlungstheorie und Ethik zu werden: Das Selbst- bzw. Mitbewusstsein. Dieses sollte nun, so zumindest der cartesianische Anspruch, allem philosophischen und wissenschaftlichen Erkennen und Sprechen, in eins damit der Handlungstheorie und Moralität zu einem sicheren Fundament werden. Es sollte zum allgemein-universalen Grund werden.

2      Geistphilosophie als Subjektphilosophie: Ich bin, ich existiere

Descartes (1596-1650) setzte auf eine umfassende Neuinszenierung der Philosophie. Er wollte die menschliche Selbst- und Weltvergewisserung gegen ihre mittelalterlichen nominalistisch-erkenntniskritischen Hinterfragungen sichern, ihr also ein Fundament, ihr einen Grund geben. Descartes suchte diese ‚primis fundamentis‘. Denn nur, wenn ein solches Fundament würde indiziert werden können, wäre es auch möglich, Geltungsmaßstäbe des Wissens und Handelns, zudem jene methodischen Wege zu benennen, derer das Denken zum Zwecke seiner Wahrheits- und Geltungssicherung bedarf. Nur so würden einzelne Wissensgehalte und Handlungsoptionen in ein methodisch gesichertes Ganzes überführt und zur synthetisch-begrifflichen Einheit gebracht, letztlich also auch als Wissenschaft praktiziert werden können. Nur so würden sie in ihre Wahrheit, in ihr umfassendes Gewusst- und Verstandenwerden gelangen können. Eben dies zu leisten war von alters her das Selbstverständnis der Philosophie. Die Geltungsmaßstäbe aller Denk- und Handlungswege galt es zu sichern. Es galt, alle wissenschaftliche, alle naturwissenschaftliche und philosophische Praxis zu sichern, sie als sinnvoll und zielführend zu sichern: Es musste die prinzipielle Möglichkeit von Philosophie ausgewiesen werden, gesichert durch eine Erkenntnis-/Urteilslehre, die sich an der Methodik des universalen Zweifels zu bewahrheiten hatte.

Descartes sollte die gesuchten Fundamente auf eine Weise legen, die beim frühen Augustinus anzuknüpfen schien. Denn er ging den Weg nach innen. Augustinus war diesen Weg dereinst gegangen aufgrund der Herausforderung durch den antiken Skeptizismus und Manichäismus. Er war dabei zur Evidenz des ‚Si enim, fallor sum‘ (‚Wenn ich mich täusche, bin ich‘) gelangt, zu einer Evidenz, die im Rahmen der von ihm vorausgesetzten (neu-)platonischen Sprachphilosophie und Ontologie zu einer hinreichenden Sicherheit in den Erkenntnis- und Werturteilen führte. Descartes wandte sich ebenfalls diesem Inneren des Menschen zu, um die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit und Verständigungsfähigkeit sprachlichen Handelns zu sichern. Freilich aber tat er dies unter anderen, jetzt nämlich unter nominalistischen Vorzeichen. Insofern stand er den Evidenzen augustinischen Denkens sehr fern. Er wollte in jenem Inneren den Wahrheits-/Geltungsausweis gegen jeden überhaupt nur möglichen Zweifel finden, gegen jede denkbare Täuschung, auch und gerade gegen die erkenntniskritischen Angänge des Nominalismus. Mittels dieses Durchschreitens des Inneren seiner selbst als eines Erkennenden vermöge sich menschliches Erkennen und Sprechen, so die cartesianische Hoffnung, einer notwendig-zweifelsfreien Instanz zu sichern, kraft derer es als (a) prinzipiell wahrheitsfähig und geltungsvalide würde auszuweisen sein. Und es habe sich einer Instanz zu sichern, die das menschliches Erkennen und Sprechen unter definierten Bedingungen (b) tatsächlich wahr und gültig sein lässt. Besagte Instanz müsse (c) Gewissheit mit sich führen. Der Mensch müsse sich seiner selbst gewiss sein können. In der Beschäftigung, letztlich: in der denkenden Beschäftigung mit sich selbst müsse das Erkennen/Urteilen auf seinen es bedingenden Grund stoßen. Zugleich habe es diesen aber als einen jenseits seiner selbst, als einen jenseits des Erkenntnis-/Urteilsakts liegenden Grund zu sichern. Es müsse also ein Grund des erkennenden und erkannten Vielen und zugleich ein Grund sein, der kein Element des Erkennens/Urteilens sein darf, anderenfalls die Erkenntnis- und Grundsicherung tautologisch-fehlschlüssig wäre, die eigene Geltung nur unter Voraussetzung der eigenen Geltung zu beweisen.

Descartes suchte eine Grundlage, ein Fundament, um über das Erkennen und die Wirklichkeit als Ganze, um also über die (ursprüngliche) Einheit des Vielen zweifelsfrei und gewiss sprechen zu können. Zugleich damit wollte er ein Kriterium installieren, wahre Sätze von falschen Sätzen zu unterscheiden. Es musste ein Fundament und ein Kriterium sein, gleichermaßen zweifelsfrei und gewiss so, wie rein analytische Sätze zweifelsfrei und gewiss sind, jene Sätze also, die in der Mathematik und Geometrie vorkommen. Und es musste ein Grund sein, der gewiss ist auch dann, wenn Sinneswahrnehmung und Gegenstandsbewusstsein des Menschen vollständig irrtumsbefangen wären, wenn sie also zB resultierten aus dem Wirken eines bösen Geistes (eines ‚genius malignus‘, wie Descartes ihn nannte), der das menschliche Erkennen und Urteilen in all diesen und auch in den mathematisch und geometrisch gewissen Wahrheiten täuschen würde.

Das gesuchte Fundament sollte von Descartes schließlich als ‚präreflexives Cogito‘ (als Selbstbewusstsein) formuliert und durch die Idee eines nicht-täuschenden Gottes gesichert werden. Ein Fundament, von ihm ausgewiesen als Konstitutions- und Geltungsbedingung jeglichen Erkennens, jedes reflexiv-prädikativen oder logisch-schlussfolgernden Erkennens. Ein Fundament, das kein Element des reflexiven oder logischen Erkennens sein durfte und doch zugleich mit diesem untrennbar verbunden zu sein hatte. Denn er sollte ja das Fundament sein der Gewissheit jeglicher prädikativen Urteile. Ein Fundament, das den Zweifel nicht kennen durfte, welcher jedem anderen, jedem prädikativ-logischen Erkennen entspringt oder entgegentritt – jedem Erkennen also, das ein (potentiell wechselndes) Prädikat einem (bleibenden) Subjekt zu- oder abspricht.

Was es mit diesem Fundament auf sich hat und wie es von Desasters eingeführt und in Evidenz gesetzt wurde, müssen wir uns nun im Detail anschauen. Hierzu sei zunächst an die erkenntnismetaphysischen Funktionen erinnert, die in der Philosophie Platons vom Konzept der Idee (griech. ‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘], lat. ‚idea‘) ausgingen. Wir wissen, dass die platonische Idee-Vernunft als ein dreifach dimensioniertes Ganzes zu agieren hatte, welches jeder dieser drei Dimensionen Fundament zu sein und die Geltung der Vernunft als solche, ihren Realismus und die Wahrheit ihrer Urteile zu sichern hatte: Die Idee als Fundament und Grund von (a) Sprache, von (b) abstraktem (mathematischem und ethischem) Denken und von (c) Wirklichkeit als Wirklichkeit. Bei Descartes hingegen war die Idee aufgrund der angezeigten mittelalterlichen nominalistischen Kritik ihrer platonisch-wirklichkeitssichernden (ontologischen) Identität beraubt. Sie war daher keine objektiv-subjektive, sie war keine der menschlichen Erkenntnis zugängliche und deren Wahrheit sichernde Idee mehr. Wenn daher Descartes von den Ideen sprach und sich auf die Suche machte nach einer grundsichernden Idee, so tat er dies anders als Platon. Die cartesianische Idee ist als solche kein Grund und kein Fundament. Sie ist nur mehr das, was in der menschlichen Erkenntnis und insofern etwas in der menschlichen Erkenntnis als wirklich aufscheint. ‚Idee‘ ist bei Descartes also nur noch ‚Vorstellung‘, nur ein Erkenntnisinhalt und keine (wie auch immer inszenierte) Realität, die dem menschlichen Erkennen (ontologisch) vorgängig und (epistemisch) zugänglich wäre und Erkenntnisurteile als wahr sichern würde. Nur die Vorstellung, nur das subjektive Erkennen ist dem Menschen noch zugänglich, oder auch: „Alles, was ist, muss eine Vorstellung [‚Idee‘] sein“ (R. Descartes, Princ. I 45). Indem Descartes die im Erkennen gegebene Vorstellung/Idee mit der Erkenntniswirklichkeit als solcher identifizierte und außerhalb dieser Vorstellungs-Idee-Wirklichkeit nichts Wirkliches mehr übrig ließ, agiert die Philosophie von nun an in nominalistisch erzwungener Bescheidung. Sie spricht von keiner vorstellungsfreien oder erkenntnisunabhängigen Wirklichkeit mehr. Solches ist ihr unter cartesianisch-neuzeitlichen Voraussetzungen prinzipiell unmöglich.

In dieser Situation – unter den Bedingungen der anbrechenden Neuzeit – wollte die cartesianische Geist- bzw. Subjektphilosophie ein Fundamanet der Vorstellungen indizieren. Sie musste dem Vorstellen, zumindest aber irgendeiner bestimmten Vorstellung, den Status eines sicheren, eines gewissen und eines zweifelsfreien (Vorstellungs-)Erkennens geben. Und Descartes operationalisierte dieses Ziel: Der wahre Ursprung der Vorstellungen habe klar durchschaut zu werden. Er rezipierte damit die Geltungsfrage des Erkennens als Ursprungs-/Herkunftsfrage des Erkennens. Er rezipierte sie als Suche nach dem Ursprung auch und gerade jenes Wissens, das am sichersten zu sein scheint. Descartes ging hierfür in zwei Schritten vor:

(a) Er unterschied zunächst zwei verschiedene Gegebenheitsweisen der Vorstellungen (‚ideas‘): Einerseits die genau erfassbaren Vorstellungen, jene also, die klar und deutlich (‚clare & distincte‘) seien, weil sie unmittelbar einleuchten würden, weswegen man sie intuitiv hinnehme. Sie seien schlechthin gewiss. Philosophische, gar metaphysische Aussagen könnten zweifelsfrei wahr sein dann und nur dann, wenn sie von diesen klaren und deutlichen Vorstellungen ausgingen. In dieser Maßgabe ist Metaphysik bei Descartes möglich, sinnvoll und wahrheitsfähig. Es ist möglich, über den Grund des Vielen – des vielen Erkannten und des Erkennens – zu sprechen. Andererseits, und von jenen Vorstellungen streng zu unterscheiden, stehen bei Descartes die ungenauen und wechselhaften Vorstellungen. Sie (aber auch nur sie) seien dazu angetan, Zweifel hervorzurufen, sie seien weder wahrheits- noch geltungswertig. Jede Behauptung, die von wechselhaften Vorstellungen gespeist sei, unterliege dem Zweifel. Auf ihr laste der Verdacht, falsch bzw. irrig, kurz: nicht wahr zu sein.

(b) Descartes ließ sodann den Unterschied beider Vorstellungsarten aus deren jeweiliger Verursachung resultieren. Denn die zweifelerzeugende Vorstellung sei verursacht (nur) durch eine Wirklichkeit, die der Vorstellungs-Erkenntnis hinzukommend begegnet, ihr also äußerlich sei, von außen an sie herantrete. Die andere hingegen sei verursacht durch das Vorstellungs-Erkennen selbst, sei dieser also innerlich. Jene, die dem Erkennen von außen begegnende Wirklichkeit, nannte Descartes ‚realitas formalis‘, eine formale Realität, ihr eigne nur eine theoretische Realität. Als ‚realitas obiectiva‘ hingegen bezeichnete er die letztgenannte Wirklichkeit, sie begegne dem Vorstellungs-Erkennen von innen her, ihr eigne daher objektive Realität. Mit welcher der beiden Vorstellungs-Realitäten es der Erkennende jeweils zu tun hat, welche Realität sich ihm also in (s)einer Vorstellung zeigt, entscheidet sich an der Herkunft dieser Vorstellung: Eine zweifelsfrei wahre und objektiv reale Erkenntnis (‚realitas obiectiva‘) ist dem Vorstellungs-Erkennen innerlich.

Descartes unterschied drei Herkunftsorte, also drei Vorstellungstypen bzw. drei Typen von Ideen: (a) Angeborene Vorstellungen (‚idea innatae‘) – zB Ding, Washeit, Bewusstsein; (b) erworbene Vorstellungen (‚idea adventiciae‘) – zB Gehörtes, Gesehenes, Gefühltes; (c) selbst gemachte Vorstellungen (‚idea a me ipso factae‘) – zB Mythisches, Fabelwesen. Um entscheiden zu können, ob eine Vorstellung innerlich ist und daher ein (philosophisches) Urteil oder Argument, das von ihr aus entwickelt wird, zweifelfrei gewiss ist, muss sie, so Descartes, angeboren sein. Nur angeborene Vorstellungen sind dem Erkennen innerlich, zweifelsfrei wahr und geeignet, Ausgang/Fundament zu sein philosophischer oder anderer zweifelsfrei deduzierter Satzkonstruktionen. Descartes musste somit nach einer Vorstellungs-Erkenntnis suchen, die sich einstellt in einem Rückgang auf eine ‚realitas obiectiva’, wobei diese ihrerseits zu entstammen hatte einer angeborenen Vorstellung (einer ‚idea innatae’). Nur eine solche Vorstellung könnte vom universellen Zweifel und von täuschenden Dämonen nicht hintergangen werden. Sie wäre geeignet, (irgendwie) Fundament zu sein.

Descartes wurde auf seiner Suche nach einer solchen Vorstellung fündig, im besagten Innenweg des Denkens wurde er fündig: „Das Denken ist es; es allein kann nicht von mir getrennt werden. Ich bin, ich existiere [Ego sum, ego existo]; das ist sicher. Wie lange aber? Nun, solange ich denke“ (R. Descartes, Med. II 8f; S. 52f). Descartes hatte zunächst den Anspruch allen Gegenstandsbewusstseins zurückgewiesen, dem menschlichen Denken und Handeln Fundament und Grund sein oder einen Grund geben zu können. Das Gegenstandsbewusstsein sei bloßes Reflexionsbewusstsein. Sätze, die mit einem methodisch gesicherten Anspruch auf Wahrheit und Geltung auftreten, wurden von Descartes – und so werden es nach ihm alle Philosophen tun, die ihm in seinem ‚Weg nach innen‘ folgen – selbstbewusstseinstheoretisch gesichert. Im Selbstbewusstsein – in einer Gewissheit, die befreit ist vom Zweifel und täuschenden Dämon – formuliert sich jener methodische und inhaltliche Maßstab und Garant des Verstehens sprachlicher Ausdrücke, der Schärfe der Begriffe, der Wahrheit der Aussagen. Denn mit ihnen nehmen diese ihren Ausgang nun von einer urteilsfreien Evidenz, von einer Selbstbewusstseins-Ursprungsidentität: „Ich bin, ich existiere; das ist sicher […] solange ich denke“ (R. Descartes, Med. II 8f; S. 52f). Kein Gegenstand der Sinneswelt, keine Idee der nomologischen Welt und kein Gott der transzendenten Welt wird dem Denken in Hinkunft noch Fundament und Grund sein können. Eine Revolution der Denkungsart: Die Neuzeit.

Indem Descartes dem nominalistischen Zweifel einen nochmals verstärkten, einen radikalisierten Zweifel entgegensetzt hatte, war er zu einem Denken gelangt, das ist, ‚solange ich denke‘. Angelangt war er beim Selbstbewusstsein. Freilich nicht bei jenem trivialen Selbstbewusstsein, von dem Psychologie und Pädagogik zu sprechen pflegen, in Formulierungen wie „das Selbstbewusstsein stärken“ oder „jemandem mehr Selbstbewusstsein vermitteln“ etc. Sondern er gelangte zu jenem Bewusstsein, das dem Gegenstandsbewusstsein geistphilosophisch-ontologisch mitläufig ist und ihm immer schon vorausgeht. Dieses (athematische, also nicht-gegenständliche) Bewusstsein, dieses Selbst- bzw. Mitbewusstsein sichert bei Descartes die prinzipielle Denkmöglichkeit und Wahrheitsfähigkeit des darin grundgeleiteten Sprach- und Verständigungshandelns. Es ist ihm die sichere Fundamentalerkenntnis bzw. Fundamentalvorstellung. Ein Erkennen und Vorstellen freilich, das kein Erkennen und Vorstellen mehr ist: Es ist kein reflexives Erkennen und Vorstellen, es ist Erkennen und Vorstellen ohne Gegenstand, ohne ‚Subjekt‘, eine ursprüngliche Bewusstseinserfahrung bzw. -intuition: Es ist die Bewusstseinsvorstellung des ‚ego cogito, ergo sum‘.

3      Selbstbewusstsein im Empfinden

Das cartesianische „Ego cogito, ergo sum“ („Je pense, donc je suis“; R. Descartes, Disc IV 3; S. 54f ist, als von Descartes eingeführte Variante seines ‚Ego sum, ego existo’, inzwischen fast zu einer alltagssprachlichen Redewendung geworden. Darin wird es jedoch zumeist als Reflexionsbewusstsein rezipiert, also missverstanden. Schon die Formulierung in den „Meditationen“ versperrt sich aber einem solchen Missverständnis: „Ich bin, ich existiere [Ego sum, ego existo]; das ist sicher. Wie lange aber? Nun, solange ich denke“ (R. Descartes Med. II 8f; S. 52f; Hervorhebung C.T.).

Gezeigt wurde bis jetzt, dass dieses Prinzip von Descartes ausgewiesen worden ist im Gang umfassenden Zweifels am Wahrheitswert aller Sätze des Reflexionsbewusstseins. Es wurde ausgewiesen im Gang eines Denkens, das sogar am Wahrheitswert mathematischer und geometrischer Vorstellungen (‚ideas‘) zweifelt, selbstverständlich auch am Wahrheitswert der Vorstellung (‚idea‘) Gottes. Besagtes Prinzip wurde von Descartes generiert im Zweifel an allen Urteilen, die nur bei äußeren Vorstellungen, nur bei der formalen Realität (‚realitas formalis‘) ihren Ausgang nehmen. Deshalb hatte Descartes sein Prinzip argumentationslogisch anders installieren, es in seiner Wortwahl der augustinischen Selbstvergewisserung anlehnen müssen: „‘Ich denke, also bin ich‘ [ist] die überhaupt erste und sicherste [Erkenntnis], auf die sich jeder regelgeleitet Philosophierende stützt“; R. Descartes, Princ I 7; S. 14f), denn selbst ein höchster und mächtigster Betrüger, ein ‚genius malignus‘, könne hierin nicht täuschen. Diese erste Erkenntnis ist gewiss. Sie nimmt als erste Erkenntnis einen anderen Status ein als alle anderen, als alle nachfolgenden Erkenntnisse, gar als das reflexionsphilosophische Wissen. Sie ist eine genau erfassbare, eine nämlich klare und deutliche (‚clare & distincte‘) Vorstellung, eine objektive Realität (‚realitas obiectiva‘). Sie leuchtet unmittelbar, sie leuchtet intuitiv ein im Akt des Denkens: Im Denken muss man sein. Es ist ein ‚einfaches und distinktes Begreifen‘ – und auch nur deshalb geeignet, von Descartes als Grund des reflexiven und argumentativen Erkennens installiert zu werden, jener Einsichten also, die von nicht-intuitiven Vorstellungen ausgehen und sinnlicher Natur sind oder aus einer Schlussfolgerung resultieren. Die erste Erkenntnis ist eine (präreflexive) Fundament- und Grund-Intuition, ein rein hinnehmendes Erkennen, ein ursprünglich-unableitbares Sehen. Alles weitere Erkennen, alle anderen Begründungs- und Bedingungsverhältnisse sind zweifelsfrei genau dann, wenn sie durch diese präreflexive Grund-Intuition gesichert sind.

Der argumentationslogischen Positionierung gleich wie dem hinnehmend-intuitiven Charakter des cartesianischen Prinzips widerspräche es, wäre damit als ‚cogito‘ nur das Denken (cogitare) und wären nicht auch alle anderen Akte umfasst, in denen und als die das seiner selbst bewusste (und in einem Verhältnis zu sich selbst stehende) Sein zu Tage tritt. Entsprechend führte Descartes in seinen „Prinzipien der Philosophie“ noch andere Zugänge zur ‚conscientia‘ (‚Sich-selbst-Gegebenheit‘, ‚Mit-Bewusstsein‘) an, all jene anderen Akte nämlich, in denen sich der Mensch selbst gegeben ist, etwa das Zweifeln und Einsehen, das Bejahen und Verneinen, das Wollen und Nichtwollen, das bildliche Vorstellen und das Empfinden (vgl. R. Descartes, Princ. I 9 ; S. 16f; Med. II 7-9 ; S. 52f). In all diesen Akten sei dem Menschen das Sein gegeben – und sei er ursprünglich bei sich und wisse er um sich. Eine ‚conscientia‘, die Descartes den Philosophen eines Selbstbewusstseins sein lässt, das keinen Gegenstand (kein ‚subjectum‘) hat und zu dem Zugang zu nehmen nicht mehr nur dem Denken vorbehalten, sondern auch dem Empfinden und Wollen möglich ist. Und ein Selbstbewusstsein, in dem der Mensch nicht bloß von sich weiß, sondern als das er ist, nämlich ursprünglich ist. Darin ist dem Menschen das Sein entborgen. Dieses Selbstbewusstsein ist weit davon entfernt, Gegenstand der Psychologie oder Pädagogik sein zu können. Es integriert zudem eine zentrale Bestimmungsgröße philosophischer Ethik und, mehr noch, theologischer Morallehre. Denn diesen wurde die ‚conscientia‘ zum Titel des ‚Gewissens‘.  Descartes hat in dem sich selbst gegebenen Erkennen-Wollen-Empfinden einen neuen (Zugang zum) Selbst-Fundament gestiftet. Alle abstrakt-reflexiven/prädikativen Sätze, alle Philosophie, Handlungstheorie und Ethik ist diesem (Zugang zum) von nun an rechtfertigungspflichtig.