Die Aristotelische Philosophie und Naturwissenschaft etablierte sich in entscheidenden Bereichen als Absage an zentrale Vorgaben sokratisch-platonischen Denkens. Sie wich ab von der Bezugnahme auf allgemeine, unvergängliche, apriorische und Teilhabe gewährende Ideen, die getrennt wären vom konkret-individuellen Seienden. Und sie wich ab von der Methodik, mathematische (exakte) Wissenschaftlichkeit als Weg zur Erkenntnis eben dieser Ideen zu praktizieren. Denn die Aristotelischen Bemühungen galten zunächst jener Wirklichkeit, die auch Gegenstand sinnlich-anschauender Erfahrung ist. Aristoteles praktizierte als Physik (Naturwissenschaft) vor allem eine empirische, also gerade keine mathematische, keine exakte Wissenschaftlichkeit. Er distanzierte sich entschieden vom pythagoreischen Wissenschafts-/Kosmologiebegriff ausschließlicher Mathematisierbarkeit und Quantifizierbarkeit. Und er ging auch einen gänzlich anderen Weg als denjenigen, der dann von der neuzeitlichen Naturwissenschaft gegangen werden wird. Mit der Distanzierung vom pythagoreischen Wissenschaftsbegriff war ihm der Bereich wissenschaftsfähiger Gegenstände nicht mehr auf die Himmelssphäre (auf den translunaren Bereich) eingeschränkt: Das wissenschaftliche Tun war nicht mehr auf die exakten, auf die also entlang der platonisch-vollkommenen Kreisbewegungen mathematisch-geometrisch konstruierbaren Abläufe der Wandelsterne begrenzt.

Auch schon Platons Mathematisierung der (vorsokratischen) Elementenlehre hatte der Einschränkung physikalischen Denkens auf die Himmelssphäre gewehrt. Aristoteles aber befreite Begriff und Praxis aller Wissenschaft, die dem ‚Sublunaren‘ (dem ‚diesseits des Mondes Liegenden‘) gilt, von solcher Mathematisierung. Denn ihm war die veränderliche Natur Gegenstand der Naturwissenschaften (hier: der Physik), in der aristotelischen Maßgabe also Gegenstand einer nicht-exakten und nicht-mathematischen, wohl aber einer deduktiven (also logisch folgernden) Wissenschaft. Und als diese wissenschaftsfähige und anschauliche Natur ereignen sich Wachsen und Vergehen, Aufsteigen und Fallen. Aristoteles entwickelte in seiner „Physik“ den terminologischen Rahmen der Naturforschung und die apriorischen Voraussetzungen des naturhaft Seienden. Die Aristotelische „Physik“ ist eine erste Naturphilosophie so, wie die Aristotelische „Metaphysik“ eine erste Philosophie überhaupt ist. Sie agiert fern jeglichen Anwendungsnutzens. Sie hatte auf Grundlage einer ersten Philosophie (‚φιλοσοφίας πρώτης‘ [„phílosophías prótēs“]; vgl. Aristoteles, Physik II 2, 194b14f) bzw. Ontologie zu arbeiten und auf eine solche hinzuführen. Sie hatte zu praktizieren als Suche nach einer ‚ersten Ursache‘ (‚πρώτην αἰτίαν‘ [„prṓtēn aitían“]; vgl. Aristoteles, Physik II 3, 194b20) der phänomenalen und selbstbewegten Veränderung, als Suche nach dem Weshalb. Und sie wurde allein um der Erkenntnis willen unternommen.

Der aristotelischen gleich wie auch der platonischen und sonstigen antiken Wissenschaftspraxis war die (ideale) Mathematik, war die exakt-quantitative Wissenschaftspraxis weder Hilfswissenschaft der Technik noch der Mechanik und bei Aristoteles war sie auch nicht Hilfswissenschaft der Naturwissenschaft (der Physik).

Natürlich aber wusste die aristotelische Physik um die zwingende Verbindung, die zwischen der Arbeit des Naturforschers und derjenigen des Mathematikers besteht. Aristoteles ließ diese Verbindung jedoch auf einer formalen und – entsprechend seiner erkenntnismetaphysischen Voraussetzungen – auf einer inhaltlichen Differenzierung aufruhen: Wie der Naturdenker, so beschäftigt sich auch der Mathematiker mit der Frage nach der Form von Mond und Sonne und danach, ob die Erde bzw. die ganze Welt kugelförmig ist, jedoch sieht der Mathematiker von den Begrenzungen bzw. vom Natürlichen der Körper und ihrer Eigenschaften ab; er befasst sich also mit den verselbstständigten, mit den ideal geformten Eigenschaften. Der Mathematiker betrachtet die Form (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘] bzw. die ‚μορφή‘ [‚morphé‘]) idealiter, der Physiker belässt sie in ihrer Verbindung und Spannung zum formlosen Stoff (‚ὓλε‘ [‚hỳle‘]). Die mit der Physik verbundene Mathematik ist so als angewandte Mathematik unterschieden von der eigentlichen, reinen Mathematik.

Der aristotelischen Wissenschaft bzw. Philosophie ist die heute übliche Trennung zwischen naturwissenschaftlicher und geistes-/kulturwissenschaftlicher Vernunft fremd. Bei Aristoteles ist jede Selbstbewegung und Selbstveränderung  Teil der Natur. Jede Bewegung, die selbstverursacht ist, die also den Ursprung ihres Seins und Anderswerdens (‚Bewegung‘) in sich hat, ist daher der Physik gegenständlich.

Aristoteles weiß, dass Philosophie und Naturwissenschaft zwar (tiefen-)grammatikalische und begriffs-/urteilslogische Unterscheidungen voraussetzen. Deren Klärung sei unerlässlich, denn so könne das Reden beliebiger ‚Fragesteller‘ diszipliniert und geordnet werden. Jedoch bringen diese Unterscheidungen das Selbstbewegtes noch nicht ins Wort, sie erreichen nicht die ‚Wahrheit der Sache‘ (vgl. Aristoteles, Physik VIII 8, 263a17f). Hierfür bedürfe es eines zusätzlichen Rekurses auf ‚das Tatsächliche‘; vgl. Aristoteles, Physik VIII 8, 263a22).

Dessen Analyse wird den Aristoteles dahin führen, Seiendes (einschließlich der Bewegung selbst) als Zusammengesetztes, als Synthese zweier Prinzipien denken zu müssen: Gegen Parmenides und Zenon wird nicht das Werden zu Gunsten des Seins und gegen Heraklit wird nicht das Sein zu Gunsten des Werdens eliminiert. Vielmehr wird die Bewegung als (naturphilosophische) ‚Wahrheit der Sache‘ ausgewiesen, als Grund des phänomenalen Werdens und Wachens.  Sowohl gegen den (dann von Epikur übernommenen) Atomismus als auch gegen die Negativbescheide von Parmenides/Zenon und Heraklit sichert Aristoteles die Rationalität der Rede vom Sein wie auch der Rede vom Werden, im steten Bemühen, gegen eine atomistische Naturvorstellung die Rede von der Kontinuität der Natur zu sichern.

1      Der Ursprung (‚ἀρχή‘) des Seienden: Bewegung

Um zur (naturphilosophischen) ‚Wahrheit der Sache‘ vorzudringen, musste Aristoteles die Ebene sprachlicher Regeln verlassen und ‚das Tatsächliche‘ betrachten. Dieses führt ihn nun zum naturphilosophischen Theorem, Seiendes als Zusammengesetztes, es nämlich (i) ausschließlich als Doppelsynthese zweier Zwei-Prinzipienpaare – (a) kategoriales Prinzipienpaar: Stoff und Form; (b) transkategoriales Prinzipienpaar: Wirklichkeit und Möglichkeit – und es in jedem dieser Prinzipienpaare (ii) als Bewegung von dem einen Prinzip zum anderen Prinzip zu denken. Beiden Zweier-Prinzipienpaaren gemeinsam ist es, dass sie die Bewegung als (metaphysischen) Ursprung des Vielen, als (naturphilosophische) Wahrheit der Sache der phänomenalen Bewegungs- und Wachstumsprozesse zu verstehen geben. Eine Wahrheit der Sache, die Aristoteles gegen viele Angriffe verteidigen musste: Gegen den Atomismus Epikurs, gegen Parmenides und Zenon, auch gegen Heraklit. Aristoteles formulierte einen rationalen Begriff von Bewegung. Sie wird von ihm als fundamentales Prinzip, als Ursprung (‚ἀρχή‘ [‚archḗ‘]) / Grund dessen indiziert, was überhaupt wirklich ist. Bewegung ist ihm der Grund von allem, was zur sublunaren oder translunaren Welt gehört: Ursprung und Wesen (‚οὐσία‘ [‚ousía‘]) des Seienden als Seienden ist keines der Elemente der frühen griechischen (ionischen) Naturphilosophen, kein Unbegrenzte (ἄπειρον [‚ápeiron‘]) wie bei Anaximander und kein Sein (tὸ ἐόν [‚tò eón‘]) wie bei Parmenides, sondern, nochmals abstrakter, (a) die kategoriale Bewegung des Seienden von seinem Ungeformten zum Geformten und (b) die transkategoriale Bewegung von der Möglichkeit eines Seienden zu dessen Wirklichkeit.

1.1     Kategoriale Synthese: Hylemorphismus

Aristoteles ließ im Bereich sublunarer Natur keine mathematisch-exakte Wissenschaftlichkeit anheben. Diese hatte ihren Ort ausschließlich bei den Seienden der Himmelssphären. Statt solcher Exaktheit installierte er jene Deutungs- und Erklärungspolarität. Durch sie vermochte er die phänomenale Vielheit menschlicher Alltagserfahrung zu strukturieren, zu ordnen und zum Gegenstand naturforschender Praxis zu machen.

Aristoteles führte diese Deutungspolarität als Hylemorphismus ein, als Polarität zweier qualitativer Bestimmungen/Seinsprinzipien jedes Seienden: Alles Wirkliche ist bipolar strukturiert, aus Ungeformten (Materie) und Formgebenden (Idee). Das (a) Ungeformte [‚ἂμορφον‘ (‚àmorphon‘)] bzw. Unbestimmte [‚ἀόριστον‘ (‚aóriston‘)] ist der Stoff (‚ὓλε‘ [‚hỳle‘], lat. dann ‚materia (prima)‘), des Seienden. Und das (b) dem Seienden Gestalt (‚μορφή‘ [‚morphḗ‘] bzw. ‚σχήμα‘ [‚schḗma‘]) Verleihende ist seine Idee (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘]) bzw. sein Schon-ins-Sein-Gekommene (‚τί ᾖν εἶναι‘ [‚tí ẽn eĩnai‘]. Das kategoriale Ursprungsprinzip [‚archḗ‘] alles (natürlich) Seienden ist dann dessen selbstbewegtes Übergehen von jenem Ungeformten [‚hỳle‘] zu diesem ‚Geformten‘ [‚morphḗ‘, ‚eĩdos‘]. Die in dieser Polarität angelegte Bewegung vom einen zum anderen ist Grund des Entstehens und Vergehens. Seiendes ist bei Aristoteles somit Einheitliches (‚ἕν ἀριθμῶ‘ [‚en arithmȭ‘]) und Selbstständiges (‚χωριστόν‘ [‚choristón‘]), da und insofern es durch diese zwei Prinzipien konstituiert ist.

Schon hier muss aber vor einem Missverständnis gewarnt werden: Wenn Aristoteles von Form und Stoff/Materie sprach, so sprach er von den zwei Prinzipien des substantiell Seienden, auch des materiell Seienden. Keineswegs waren ihm Stoff und Materie ihrerseits derartig Seiende. Daher liegt dasjenige, was heute im alltäglichen Sprechen als Materie unterschieden wird von Geist oder Seele oder anderem, gänzlich außerhalb des aristotelischen Sprechens von jener Materie, die einem Stoff gegenübersteht – es liegt außerhalb des aristotelischen Sprechens von Bewegung. Dieses ergeht als Sprechen von den beiden Seinsprinzipien Materie und Form und wurde fachsprachlich als Hylemorphismus eingeführt: Materie, Geist, Seele und überhaupt alles substantiell Seiendes ist, so die aristotelische Diktion, durch die beiden Seinsprinzipien Materie und Form konstituiert. Daher bezeichnen Aristoteles und die aristotelische Tradition die Materie im Sinne eines bloß Materiellen als materia secunda, besagtes Seinsprinzip Materie hingegen als materia prima. Entsprechend kann dieses Seinsprinzip Materie (die materia prima) von Aristoteles an anderer Stelle auch als Individuationsprinzip eingeführt werden, darauf verweisend, dass das Allgemeine so, wie es als Gestalt/Idee ausgesagt wird, immer nur einem einzelnen Seienden, einem Individuum zukommen und so Gestaltetes entstehen lassen kann.

Indem bei Aristoteles die Form (eĩdos, morphé) eines Seienden nur in Verbindung mit dem Stoff / mit der Materie (materia prima) vorkommen kann, distanzierte er sich auch von der Ideenlehre Platons, zufolge derer jenem Idee-Allgemeinen auch losgelöst vom sinnlich-individuellen Seienden eine Wirklichkeit – und zwar eine (irgendwie) höhere Wirklichkeit – eignen würde. Wenn im aristotelischen Sinne von Substanz(en)ontologie gesprochen wird, so meint Substanz also kein Ding, keinen Erfahrungsgegenstand und auch keinen Teil und keine Eigenschaft des Seienden (etwa ein dem bloß Materiellen übergeordnetes Geistiges). Vielmehr meint es denjenigen Aspekt des individuellen Seienden, aufgrund dessen ihm Selbststand, irreduzible Identität eignet und ihm wechselnde Eigenschaften (Akzidenzien) zugesprochen werden. Dieses geschieht im Aussagesatz / Urteil dadurch, dass einem Subjekt/Nominator (‚dem, wovon etwas ausgesagt wird‘ – ‚hypokeímenon‘) als dem Konstant-Bleibenden ein Prädikat/Prädikator (‚das, was ausgesagt wird‘ – ‚kategoróumenon‘) als ein Wechselndes zu- oder abgesprochen wird. Als ein derartiges Prinzip des Seins meint Substantialität die Form, die Washeit eines Seienden. Sie wird analytisch definiert, durch Angabe von ‚Gattung [‚genera‘]) und artspezifischer Differenz (‚differentia spezifica‘).

Für den Bereich des Kategorialen, der ‚Weisen des Aussagens‘, hatte Aristoteles als höchste Kategorie die Substantialität indiziert. Jedes Seiende kann hinsichtlich seiner Substanz/Washeit (Mensch, Stern, Katze, Tisch, …) ausgesagt werden, wodurch individuell Seiende einander (als Menschen, Sterne, Katzen, Tische, …) zugeordnet und voneinander unterschieden („Menschen sind keine Katzen.“) werden. Und Aristoteles hatte weitere Kategorien bzw. Möglichkeiten indiziert, Seiende einander zuzuordnen und voneinander zu unterscheiden. Er hatte weitere Weisen der Aussage indiziert, unterhalb besagter (bleibenden) Substanz-Kategorie hatte er neun akzidentielle (wechselnde) Kategorien indiziert: Quantität, Qualität, Bezogenes, Wo, Wann, Lage, Haben, Tun, Erleiden. Jedes Seiende lässt sich aussagen hinsichtlich seiner Substantialität, aber auch hinsichtlich seiner Zahl, seiner Qualität, seinem Bezogensein, seinem Ort usw. In erstgenannter Hinsicht, in Betreff also seiner Substantialität, bleibt das Seiende stets das Gleiche. Verändern/Bewegen tut es sich hingegen in der zweiten Hinsicht, in Betreff also seiner Akzidenzien (symbebekós, accidentia).

1.2     Transkategoriale Synthese: Akt-Potenz

Aristoteles lässt die soeben vorgestellte und philosophiegeschichtlich als ‚aristotelischer Hylemorphismus‘ rezipierte Polarität von Stoff/Materie (‚ὓλε‘ [‚hỳle‘]) und Idee/Substanz (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘]) und er lässt überhaupt das Seiende an ihm selbst und insgesamt gegründet sein in einer nochmals weitergehenden Unterscheidung bzw. Polarität. Diese gehört einem Bereich an, der in tiefengrammatikalisch-sprachlicher Ordnung oberhalb des Kategorialen angesiedelt ist. Sie ist eine transkategoriale Unterscheidung. Sie ist keine unterscheidende Weise der Aussage, sondern sagt aus, was von jedem Seienden gilt. Es gilt von ihm also, insofern Seiendes Seiendes ist. Sie ist eine andere, eine ontologisch-metaphysische Weise des Aussagens/Sprechens, nämlich: Jedes Seiende ist sowohl seiner Möglichkeit (‚δύναμις‘ [‚dýnamis‘]; ‚potentia‘) als auch seiner Wirklichkeit (‚ἑνέργεια‘ [‚enérgeia‘]; ‚actus‘) nach. Jedes Seiende ist schon so oder so wirklich, zugleich und darin ist es ihm möglich, so oder anders zu werden. Seiendes ist in der Weise des Werdens, der Bewegung: Die aristotelische Akt-Potenz-Lehre.

Im Zueinander dieser transkategorialen Unterscheidung (eines der Möglichkeit oder der Wirklichkeit nach Seienden) und jener kategorialen Unterscheidung (die Weisen des Aussagens, also die 10 Kategorien: Substantialität und neun Akzidenzien) hat Aristoteles einen spezifischen Wirklichkeits- und Grundbegriff installiert: Grund des Vielen ist ihm gegen Heraklit weder das Werden (ein fortwährendes Ändern und Fließen) noch, gegen Parmenides, das Bleiben (ein statisches Sein). Grund des Vielen ist ihm das Übergehen selbst und als solches, durch welches das Seiende von dem, was es ist, zu demjenigen wird, was es sein kann. Grund des Vielen ist das Übergehen des Seienden von seiner Möglichkeit (‚δύναμις‘ [‚dýnamis‘] zu seiner Wirklichkeit (‚ἑνέργεια‘ [‚enérgeia‘]). Diese Grundbewegung wird von Aristoteles installiert als jener ‚Sinn von Sein‘ (von ‚ist‘), der das Fundament ist und die Basis des kategorialen Sinns von Sein (von ‚ist‘) und der als Substanz und Akzidenz ausgesagt wird. Und dieser Grund – das also, was vom Seienden gilt, insofern es Seiendes ist – ist einer besonderen Wissenschaft gegenständlich, der Ontologie bzw. Metaphysik.

1.3     Einheit kategorialer und transkategorialer Bewegung

Wir können zusammenfassen: Aristoteles lässt die Substanz des Seienden als (a) kategoriale Synthese von Ungeformten und Geformten konstituiert sein in (b) jener transkategorialen Synthese bzw. Spannung von Möglichkeit (‚δύναμις‘ [‚dýnamis‘]; ‚potentia‘) und Wirklichkeit (ἑνέργεια‘ [‚enérgeia‘]; ‚actus‘). Er hat so eine (rationale) Terminologie der Bewegung eingeführt, eine Terminologie des Zustandswechsels installiert: Bewegung und Grund ist, dies das erste der beiden Prinzipienpaare, (ad a) das transkategorial-fundamentale Übergehen des Seienden von seiner Möglichkeit (‚δύναμις‘ [‚dýnamis‘]) zu seiner Wirklichkeit (‚ἑνέργεια‘ [‚enérgeia‘]). Und Bewegung ist, dies das zweite der beiden Prinzipienpaare, das (ad b) Übergehen, das das jeweilige natürliche, also selbstbewegte konkrete Seiende macht, da und insofern es konstituiert ist von zwei kategorialen Seinsprinzipien, nämlich einerseits vom Ungeformten (‚ὓλε‘ [‚hỳle‘], lat. materia‘) und andererseits vom ‚Geformten‘ (‚μορφή‘ [‚morphḗ‘] / Idee (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘], lat. ‚forma‘). Diese (kategoriale) Bewegung, das Sich-bewegen des Natur-Seienden, bedürfe einerseits etwas, das sich in dieser Bewegung erhält und identisch bleibt, eben jenes Wesens (‚οὐσία‘ [‚ousía‘]) / jener Substanz (‚substantia‘). Und andererseits bedürfe sie eines Veränderlichen, eines Akzidentiellen (‚σνμβεβηκός‘ [‚symbebekós‘] / ‚accidentia‘). Ohne jenen beharrenden (substantiellen) Wesens-Bezugspunkt gleich wie ohne jenes (akzidentielles) Veränderliche klnnten sub- und translunare Bewegungen nicht ausgesagt werden. Denn Substantielles als Substantielles bewegt sich nicht (so ja die tiefengrammatikalische Aristotelische Klärung), sondern das konkrete Seiende bewegt sich. Die Substanz ist in und als transkategoriale Synthese/Spannung von Möglichkeit (‚δύναμις‘ [‚dýnamis‘]) und Wirklichkeit (ἑνέργεια‘ [‚enérgeia‘]). Diese Synthese ist in sich vermittelt als Bewegung (‚κίνησις‘ [‚kínesis‘]: „Werdende [ist] immer ein Zusammengesetztes.“[1]

Da dem Einzelseienden zudem eine Spannung eignet zwischen (seiner) Substanz/Idee (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘]) und dem, was es schon tatsächlich (real) ist, weist jene gegenüber diesem – weist die Idee gegenüber ihrer Realisierung bzw. Schon-Realität – einen Überschuss auf. Dieser Überschuss ist nicht unwirklich, sondern als Möglichkeit (‚δύναμις‘ [‚dýnamis‘]) und Ungeformtes (‚ὓλε‘ [‚hỳle‘]) des individuell Seienden schon wirklich: Das individuelle Seiende ist an ihm selbst (zumindest) die verwirklichte Möglichkeit, dieses oder jenes zu werden. Zum Beispiel bedingt die reine menschliche Natur (Substanz) mehrere Möglichkeiten, jedoch ist ihr nicht anzusehen, welcher konkrete – zB gebildete oder ungebildete – Mensch er ist. In der Rede von einem gebildeten Menschen zB ist der Sprachausdruck Mensch das Zugrundeliegende, wohingegen gebildet nur als Element des Gegensatzpaares von ungebildet und gebildet vorkommt und daher die spezifische kategoriale (verändernde) Veränderung aussagt (wenn etwa der ungebildete Mensch zu einem gebildeten wird). Aristoteles klärt dies unter beispielartiger Verwendung des Sprechens von einem Arzt, der ein Haus baut: Nicht vom Arzt als Arzt (nicht also von der Substantialität des Arztes, Arzt zu sein), sondern vom Arzt als Bauherrn (von der Akzidenz des Arztes, zufällig auch Bauherr zu sein), wird hier gesagt, er sei Bauherr (vgl. Aristoteles, Physik I 8, 191a23-191b34).

Indem er so mit dem Begriff der Bewegung auch das Lernen natur- und sprachphilosophisch gesichert hat, war von Aristoteles das, was Platon nur als Mythos (Anamnesis, Mäeutik) oder als Gesprächsdialektik installiert hatte, in philosophische Evidenz gesetzt. Die aristotelische Grund-und Ursprungsbewegung meint, dass eine gegenwärtige Möglichkeit des Seienden zu dessen gegenwärtiger Wirklichkeit werden kann, solchermaßen Möglichkeiten des ungeformt Seienden aktualisierend. Dies aber nicht so, dass sich das Wesentliche bewegte oder das Nebensächliche, sondern so, dass sich das konkrete Seiende bewegt, von (s)einer wirklichen Möglichkeit zu (s)einer wirklichen Wirklichkeit übergeht. Seiendes ist als je konkretes Einzelnes, als Einheitliches (‚ἕν ἀριθμῶ‘ [‚en arithmȭ‘) bzw. Selbstständiges (‚χωριστόν‘ [‚choristón‘) Träger (‚ὑποκείμενον‘ [‚hypokeímenon‘] einer Form (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘]) und eines Ungeformtem (‚ὓλε‘ [‚hỳle‘]). Seiendes ist Wesentliches und Nebensächliches zugleich (jedoch in verschiedener Hinsicht): „In einem Sinne ja, im anderen jedoch nicht“ (vgl. Aristoteles, Metaphysik VII 13, 1038b30-1039a1).

Die aristotelische Hinwendung zur erfahrbaren Wirklichkeit widersprach den platonischen Ideen. An deren Stelle sind nun Geformtes/Idee (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘]) und Ungeformtes (‚ὓλε‘ [‚hỳle‘]) als die beiden (kategorialen) Prinzipien des einen Trägers, des einen Wirklichen (‚ὑποκείμενον‘ [‚hypokeímenon‘]) getreten. Dieses gibt sich in seinem Grund, in seinem metaphysischen Sein, als Bewegung zu erkennen.

2      Das Konkrete Seiende als Träger der Idee

Von Platon abweichend, hat Aristoteles das kategoriale Prinzip der Idee (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘], ‚idea‘) bzw. Gestalt/Form (‚μορφή‘ [‚morphḗ‘]) keinem Unterbereich einer hierarchisch gegliederten Gesamtwirklichkeit zugeordnet. ‚Idee‘ zu sein, wird von ihm keinem Jenseitig-Selbstständigen, sondern einem konkreten Träger (‚ὑποκείμενον‘ [‚hypokeímenon‘]) zugesprochen, einem einheitlichen Seienden, dessen Wesen (‚οὐσία‘ [‚ousía‘], lat. ‚substantia‘) sie ist. Eine Idee (‚εἶδος‘ [‚eĩdos‘]) gibt es einzig als ein ‚τὶ κατὰ τινός‘ [‚tì katà tinós‘], als ein ‚etwas von etwas‘, nur als Wesen (‚οὐσία‘ [‚ousía‘]) eines Trägers (‚ὑποκείμενον‘ [‚hypokeímenon‘]), eines Seienden (‚ὄν‘ [‚ón‘]). Dieser Träger wird von Aristoteles als ‚Dies-da, was‘ (‚τόδε τι‘ [‚tóde-ti‘) ‚angezeigt‘ (‚φάναι‘ [‚phánei‘] / ‚τιγεῖν‘ [‘tigeĩn‘]). Vom Träger werden die (akzidentiellen) Eigenschaften/Kategorien ausgesagt, zB, dass er sich bewegt.

Aussagesätze sprechen der substantiellen Form/Idee (zB „Erz“, „Stein“, „Gold“) eines Seienden akzidentielle Kategorien zu oder ab. Und umgekehrt gilt dann: Eine Substanz/Idee – auf sprachlich-grammatikalischer Ebene: ein Subjekt (‚ΰπόστασις‘ [‚hypóstasis‘]) – kann nicht anderem zu- oder abgesprochen werden, sie kann von keinem anderen ausgesagt werden. Substanz/Idee zu sein ist vielmehr Bedingung der Möglichkeit allen Zu- und Absprechens. Um daher vom Seienden als Seienden (‚ὄν ᾗ ὄν‘ [‚ón hẽ ón]; vgl. Aristoteles, Metaphysik IV 2, 1003a21-32) etwas aussagen zu können – von dem also, was das Seiende ist, insofern es ist –, bedarf es einer anderen, einer ausgezeichneten Wissenschaft, einer besonderen Wissenschaftssprache. In nicht-gegenständlicher Weise ist deren Gegenstand das Seiende als Seiendes. Sie muss anders sprechen als alle anderen Wissenschaften. Der Name dieser besonderen Sprache/Wissenschaft ist Metaphysik. Sie (und nur sie) spricht vom Seienden als Seienden. Ihr anderer Name lautet erste Philosophie (‚φιλοσοφίας […] πρώτης‘ [‚phílosophías prṓtēs‘]; Aristoteles, Physik II 2, 194b).