Sehr geehrter Sebastian Kurz,

die Kurz-Bewegenden und Kurz-Bewegten dieser Tage, aber auch jene, die es schon lange sind oder schon immer waren (also bewegt waren und etwas bewegten), konnten vor Kurzem (welch redselig-besagender Wörtergleichklang …) und im Rahmen der ORF-Sommergespräche an Ihrer Sicht der Welt und der Welten Dinge Anteil nehmen. Und vielleicht nahmen sie daran Anteil, wie man es etwa in der Trauer zu tun pflegt. Bei der es natürlich üblich ist und selbstverständlich, Mitleid zu empfinden und Beileid zu bekunden. Denn Trauer, Mitleid und Beileid gehören in den Belangen menschlichen Lebens und Zusammenlebens gar eng zusammen: Was kann das für ein Mensch sein, der Trauer nicht bemerkt, der Mitleid nicht empfindet und kein Beileid zollt?

Und es ist da ja so Vieles in der Welt, was uns in Trauer versetzen kann (oder auch nicht), was uns Anteil nehmen lässt (oder auch nicht) und was uns Mitleid erleben lässt (oder auch nicht). Sie etwa sprachen davon – Sie merken, ich werde konkret, verlasse die allzu kurz gegriffenen und allzu seicht geratenen Tiefen – dass es Menschen gibt, „die schlechtere Lebensbedingungen haben als wir. Und da gibt es leider unzählige“ (ZIB 2, 28.08.2017). Sehr wohl bemerkt, Herr Kurz. Da gibt es Unzählige. Und ich will jetzt gar nicht die (andernfalls doch sehr naheliegende) Frage stellen (oder ebenso naheliegend beantworten), wie sehr diese Unzähligen, wie sehr diese vom Leben Gebeutelten nicht zufällig und unverschuldet sind, was sie sind – nämlich gebeutelt und auf der Flucht -, sondern auch (und nicht zuletzt) auf unser Konto, auf das Konto unserer – Ihrer und meiner – Lebensführung (etwa in Österreich, in Deutschland, kurz: im wohlhabenden Westen) gehen. Ursachen also, die man leicht ändern, die man (bei uns) vor Ort leicht ändern könnte. Die man ändern könnte, wenn man nur wollte, wenn man also das Dauerwohlstands- und Dauervernebelungsversprechen „Wir werden auch in Zukunft immer reicher, satter und zufriedener sein“ endlich einmal auf den Scheiterhaufen der Geschichte werfen würde (nachdem die Illusionen dieses Versprechens so viele Menschen so vieler Zeiten und Orte schon auf selbigen geschickt haben).

Sie nehmen, zunächst ja nicht verkehrt, die andere mögliche Perspektive ein (die jedoch verkehrt wird und teuflisch, wenn sie ohne die soeben genannte daherkommt): Man müsse diesen Menschen „helfen, […] aber wir müssen es schon auch richtigmachen, nachhaltig machen, und da ist mein – meiner Meinung nach christlich-sozialer – Ansatz, dass wir vor Ort mehr tun sollten“ (ZIB 2, 28.08.2017). Sie meinten natürlich: Nicht an unserem Ort! An deren Ort! Am Ort deren schlechter Lebensbedingungen. Wobei ‚schlecht‘ hier freilich arg euphemistisch, arg einnebelnd ist: Es sind Lebensbedingungen, die tödlich sind, die verhungern und krepieren lassen, in ausgelieferter Schutzlosigkeit und Ohnmacht, als Opfer einer globalen Wohl- und also Unwohlstands-, einer totalen Wahnsinnsmaschinerie.

Sie wollen also den Flüchtlingen helfen – an deren Ort. Wie soll das gehen? Deren Ort ist der Ort des Todes, des Elendes, des Krieges. Ihnen vor Ort – und das heißt: Ihnen mit den Handlangern der dort-ortigen Tode – zu helfen, heißt, sie ihrem Schicksal, also ihrem Tod zu überlassen.

Herr Kurz – ich schäme mich für Ihre Nachhaltigkeitsversprechen, ergangen auch im beanspruchten Gestus christlicher Religiosität. Das, was Sie betreiben, ist ein Verbrechen – und Sie berufen sich auf (k)ein Christliches, das, sich selbst verfehlend, in Nichts nachsteht all den anderen Verbrechen, die im Namen des Christentums einst begangen wurden. Sie kommen im Erbe der Kolonisatoren und Reichtumsschinder zu stehen (nur dass deren Gewalt aktiv und ersichtlich war, die Ihrige hingegen smart und geschmeidig daherkommt). Doch es gilt: Auch in Kauf genommene Gewalt macht schuldig. Der Verantwortung ist nicht zu entkommen, vor ihr abzutauchen funktioniert nicht.

Das, Herr Kurz, ist die nicht-seichte Tiefe, ist die Konkretheit und Konsequenz ihrer Worte, das also, was in der Tiefe Ihrer Worte angezeigt ist und von Ihnen gefordert wird, die Tiefe, Konkretheit und Konsequenz Ihrer diabolischen „Wir-helfen-den-Flüchlingen-vor-Ort-Politik“:

  • Es ist die Nachhaltigkeit der Gewalt und des Todes, libysche Milizen Berlin-Wien-EU-finanziert „Flüchtlinge in Lager verfrachten [zu lassen], wo sie weiterhin misshandelt, gefoltert und vergewaltigt werden“ (Georg Restle, ARD, Tagesschau 28.08.2017)
  • Es ist die Nachhaltigkeit der Gewalt und des Todes, Europas Außengrenze mitten durch Afrika zu ziehen, ein Bollwerk gegen Flüchtlinge zu errichten und es bewachen zu lassen von Regierungen, die Feinde sind der Menschenrechte und europäischen Grundwerte
  • Es ist die Nachhaltigkeit der Gewalt und des Todes, das Flüchtlingselend dahin zu verlagern, wo keine Kameras hinschauen und nichts der Wähler/innen Abstimmung zu beeinflussen droht: Die Kameras – weg aus Europa, weg vom Mittelmeer. Als ob es ein Gewinn wäre für Hungernde und Durstende, für die vor Gewalt und Krieg Fliehenden, statt im Mittelmeer nun in den Wüsten Afrikas zu krepieren.

Und ja, Herr Kurz, es gibt andere Wege. An einen dieser Wege wurden Sie in besagtem Sommergespräch von Herrn Tarek Leitner erinnert, fast könnte man sagen, es wurde angemahnt, dieses Weges eingedenk zu sein. Denn, so fragte Herr Leitner, wie stehe es denn tatsächlich (nicht mit ihren, sondern) mit den christlichen Werten der ÖVP?

Nun war und ist (ihm und) den meisten Österreichern inzwischen ja bekannt (da es von Ihnen, Herr Kurz, allerorts verkündet wird): Sie (und, ich bekenne mich schuldig, auch ich) haben vor zwei Jahren, am Höhepunkt des Elends- und Flüchtlingsstromes, am Wiener Westbahnhof weder Wasser gereicht noch Brot gebrochen noch Windeln spendiert. Und (nur) Sie preisten und preisen diese Nicht- und Untat heute allerorten im Stolz selbstgefälliger Welt-Smart-Bürgerlichkeit, weisen sich kraft ihrer aus, eine gute Wahl zu sein. Nun aber noch, wie bemerkenswert und mehr kurz-stimmig als -weilig, Ihre Antwort auf des Moderators Frage: Jene Menschen, die 2015 Flüchtlingen halfen, wollten vor allem ihr Gewissen beruhigen.

Ja, Herr Kurz, es gibt Menschen, die haben und vernehmen (noch) die Stimme Ihres Gewissens (und vernehmen sie auch dort, wo sie bei den meisten und mainstream-anderen schon verstummt ist und sprachlos). Gott sei Dank wird sie noch vernommen, die Stimme des Gewissens! Denn dieser Stimme nicht zu folgen, zermartert die Menschen in und mit sich selbst und macht sie schließlich kalt (und smart), den Gefühlen der Anteilnahme, des Bei- und Mitleides entfremdet, weder zum einen fähig noch zum anderen und schon gar nicht fähig zur Tat, die des Unheils wehrt und die Not bekämpft. Ihr, der Stimme des Gewissens nicht zu folgen, zwingt Menschen letztlich dazu, weder das eine noch das andere noch überhaupt irgendetwas wahrnehmen und fühlen zu können. Es zwingt sie, stattdessen – wie perfide: mit gutem Gewissen (!) – nur noch …smart sein zu können und aalig-glatt, wohlgefällig und busy-busy. Ihr hingegen, der Stimme des Gewissens zu folgen, macht den Menschen menschlich. Und gilt der christlichen Tradition daher zu Recht als Stimme und Ruf Gottes, als Stimme Gottes im Menschen und als Ruf, ihr im Leben und Handeln zu entsprechen, ihr zu folgen.

Wohl und dankbar will ich sein den Menschen (den Christen wie Nicht-Christen), die ihrem Gewissen folgen, die in Ruhe sind mit ihm und daher in der Lage, allseitiger (und Ihrer) smarten Kälte und Selbstgefälligkeit zu entgehen. Denn sie verweigern sich jener Tradition, die (im Namen des Christentums gar und guten Gewissens) schändet und mordet (oder schänden und morden lässt). Denn sie nehmen Verantwortung wahr und fordern ein des Menschen Recht auf Leben und Überleben. Und darauf, aus Mit- und Beileid handeln und leben zu können. Und dann auch das Recht darauf, zu trauern dort, wo die Hilfe zu spät kam oder Opfer wurde smarter Blindheit.

Es sind und bleiben zu viele, die auf der Strecke bleiben – die auf der Strecke bleiben in Ihren und der Ihrigen smart-kurzen Welten.