In ihrem Roman ‚Corpus Delicti. Ein Prozess‘ entwirft Juli Zeh die negative Utopie eines ans Endes des 21. Jahrhundert projizierten gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem die Menschen gesetzlich verpflichtet sind, ihr eigenes Denken und Handeln der Totalität einer staatlich betriebenen Gesundheits-, Sicherheits- und Wohlstandsoptimierung ein- und anzupassen. Ein solches System, geführt und in Gang gehalten von seinen Wächtern/innen, Experten/innen und Richtern/innen – kurz: von seinen Fanatikern/innen –, funktioniert in der behördlichen Anonymität von Erwartungs- und Rollenzuweisungen. Es entbindet den Menschen pflichtenhalber jeglicher Lust und jeglichen Risikos von Individualität und Freiheit, einfordernd das universelle ‚Man‘, das ‚System‘. Und daher bekämpft es das ‚Ich‘, das Unableitbare. Wer aber dennoch für dieses eintritt – wer also das Recht auf das Risiko von Ich und Freiheit einfordert –, wird behördlich, wird gerichtlich belangt, verfolgt, verwahrt. So, wie es Moritz Holl ergeht (dessen Treue zu Freiheit und Individualität dann nur noch den Suizid kennt). Und so, wie es Mia Moll, seiner Schwester, ergeht (deren Weg zur Freiheit entlang der Treue zu ihrem Bruder führt). Und deren Treue zur Freiheit dann die Kraft zum Widerstand entbindet – ihres Widerstands und des Widerstands vieler anderer. Den jedoch zu brechen dem System zumeist ein Leichtes ist.

„Corpus Delicti“ – eine Parabel des Zeit(un)geistigen, eine Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft, eine Warnung zugleich und Ermahnung. Ein Warnruf.

Wer siegt am Ende? Das Ich oder das System (das von Julia Zeh in ihrem Roman einfach nur „die METHODE“ benannt wird)? Die Wächter (des Systems) oder Mia? Oder muss die Frage vielmehr lauten: Kann es ein richtiges Leben im falschen geben? Mia meinte, die Antwort zu kennen. Und muss sie am Ende doch ganz neu (und anders?) geben. Fürwahr: „Negative Utopie und Justizdrama, Polit-Thriller und Gesellschaftsstück, handfestes Horror- und hauchzartes Geschwistermärchen“ (Süddeutsche Zeitung; Umschlagtext).

 

Mia Holl:

„Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet.

Ich entziehe einer Zivilisation das Vertrauen, die den Geist an den Körper verraten hat.

Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Normalkörper darstellen soll.

Ich entziehe einer Normalität das Vertrauen, die sich selbst als Gesundheit definiert.

Ich entziehe einer Gesundheit das Vertrauen, die sich selbst als Normalität definiert.

Ich entziehe einem Herrschaftssystem das Vertrauen, das sich auf Zirkelschlüssen stützt.

Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, die die Frage lautet.

Ich entziehe einer Philosophie das Vertrauen, die vorgibt, dass die Auseinandersetzung mit existentiellen Problemen beendet sei.

Ich entziehe einer Moral das Vertrauen, die zu faul ist, sich dem Paradoxon von Gut und Böse zu stellen und sich lieber an ‚funktioniert‘ oder ‚funktioniert nicht‘ hält.

Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt.

Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. […]

Ich entziehe dem allgemeinen Wohl das Vertrauen, weil es Selbstbestimmtheit als untragbaren Kostenfaktor sieht.

Ich entziehe dem persönlichen Wohl das Vertrauen, solange es nichts weiter als der kleinste gemeinsame Nenner ist.

Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikofreien Lebens setzt.

Ich entziehe einer Wissenschaft das Vertrauen, die behauptet, dass es keinen freien Willen gebe.

Ich entziehe einer Liebe das Vertrauen, die sich für das Produkt eines immunologischen Optimierungsvorgangs hält.

Ich entziehe Eltern das Vertrauen, die ein Baumhaus ‚Verletzungsgefahr‘ und ein Haustier ‚Ansteckungsrisiko‘ nennen.

Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst.

Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: ‚Vorsicht! Leben kann zum Tode führen.‘“

aus: Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess, Frankfurt (btb), 162009, S. 186f